Franz Rosenzweig: "Hegel und der Staat"
Franz
Rosenzweig ist bekannt
aufgrund seiner Veröffentlichung "Stern der
Erlösung", welche 1921
erschien und als Klassiker der Religionsphilosophie kanonisiert ist.
Dass er
sich auch im Zuge seiner früheren Arbeiten mit der
Geistesgeschichte des
deutschen Idealismus beschäftigte, scheint dabei eher im
Schatten zu liegen.
Die Wiederherausgabe dieses erstmals im Jahr 1920
veröffentlichten Buches in
zwei Bänden wurde nach dem letzten Neudruck der beiden
Einzelbände erarbeitet,
die 1982 im Scientia Verlag Aalen erschienen ist.
Dabei gibt Rosenzweig selbst dem Leser in einem für das
Erscheinen des Buches
anno 1920 geschriebenen Vorwort die Zweifelhaftigkeit der Relevanz
seines Buches
mit auf den Weg: "Das vorliegende Buch, in seinen
frühen Teilen bis ins
Jahr 1909 zurückreichend, war im wesentlichen fertig, als der
Krieg ausbrach."
Dass er ein solches Unternehmen im Jahr 1920, nach den Erfahrungen des
Ersten
Weltkrieges nicht mehr begonnen hätte, sind seine
auslautenden
Worte. Der
"Hegelsche Staatsgedanke" sollte "hier in seinem Werden durch
das Leben seines Denkers hindurch gleichsam unter dem Auge des Lesers
sich
selber zersetzen, um so den Ausblick zu eröffnen auf eine nach
innen wie außen
geräumigere deutsche Zukunft." All dies scheint
Rosenzweig zum
Zeitpunkt des Erscheinens von maßloser Unbedeutendheit.
Dabei steht in diesem nach dem maßgeblichen
Entstehungsprozess des Werkes
geschriebenen Vorwort vor allem die persönliche Perspektive
Rosenzweigs und
eine bittere Erfahrung im Vordergrund. Dem eigentlichen
Fließtext nämlich ist
die ursprüngliche Relevanz, der Wunsch um die an
mögliche Leser zu
vermittelnde Einsicht in das geistige Leben eines großen
Denkers, von der
ersten Seite an anzumerken.
Nun, ein Hegel-Buch (auch ein "Über-Hegel-Buch") zu
rezensieren, ist
eine schwierige Sache. Mit welchen Kriterien der Bewertung
möchte man dieser
Vielfalt, Sinnestiefe und Ideenbreite Herr werden, vor allem, wenn man
selbst
noch in den Anfängen eines Hegel-Studiums steht und ihn hier
durch die Dopplung
einer Interpretation in Erfahrung bringt? Somit sei auch der
Rezensentin hier
der Raum der Verantwortlichkeitserklärung gegeben, diesem
Leseerlebnis einen
Hinweis auf die eigene Begrenztheit beizufügen. Wie die
Darstellung des
Lebensweges Hegels einzuschätzen ist, vermag ob fehlender
Grundkenntnisse des
Primärwerkes nicht annähernd betrachtet zu werden.
Die einzige Möglichkeit
bleibt in diesem Fall, ein Lesegefühl zu vermitteln, welches
den
Rosenzweigschen Stil und die Herangehensweise in Bezug auf und mit
Dankbarkeit
für das Nachwort von Axel Honneth beschreibt.
Dem im Lebensweg geografisch gegliederten Buch ist die intensive
Beschäftigung
mit Hegel, seinem Gesamtwerk und den zur damaligen Zeit sehr schwer
zugänglichen
Handschriften Hegels anzumerken; der Enthusiasmus, mit dem Rosenzweig
seine Erläuterungen
und das Herauskehren seines Schreibgrundes, die Entwicklung des
Staatsbegriffes
bei Hegel unter Betrachtung seiner lebenszeitlichen
Geistesbeschäftigung,
betrieb, sind spürbar, und die äußerst
akribische Darstellung der auch
kulturellen Umstände und Kontexte erleichtern diesen
gedoppelten Einblick in
eine andere Zeit. Dieses Buch erweist sich also auch für den
Hegel-Nichtkenner
als wunderbare Grundlage, um sich in das Gedankenkonstrukt und die
kulturellen
sowie philosophischen und politischen Umstände einer anderen
Zeit einzulesen.
Die Neuherausgabe von "Hegel und der Staat" wird im Besonderen von dem
Nachwort Axel Honneths erhellt, der wesentliche Umstände der
Ersterscheinung
und der jetzigen Entscheidung, dieses Werk für
gegenwärtige Leser wieder zugänglich
zu machen, erörtert und in Verbindung mit dem Vorwort der
"Urausgabe"
einen wahrlich interessanten Kommentar über die Perspektive
auf Biografien bzw.
geschichtliche Werke, ja vielleicht jedes schriftliche Werk eines
Menschen,
gibt. Honneth schreibt: "Daß [...] die
Studie Rosenzweigs heute
nur noch einem kleinen Kreis von Fachgelehrten bekannt ist, hat neben
der
inzwischen stark beschleunigten Verkümmerung des
Bewußtseins
wirkungsgeschichtlicher Zusammenhänge eine Reihe von weiteren
Gründen. An
vorderster Stelle ist hier sicherlich der schlichte Umstand zu nennen,
daß die
zweibändige Originalausgabe des Buches in
Sütterlinschrift gehalten war [...]."
Dem sind sicherlich noch andere, inhaltlich gewichtigere
Gründe anzufügen. Das
Bemerkenswerte dieses Buches und auch des Nachwortes ist aber ganz klar
in
diesen wenigen Sätzen mit angelegt und auch das
eigentümlich Sympathische. Der
Ausgangspunkt für die Beschäftigung und das Schreiben
einer solchen
wissenschaftlichen Arbeit ist die Beschäftigung als Mensch mit
einem Menschen.
Dabei geht es Rosenzweig nicht darum, ein statisches Bild von Hegel zu
zeichnen,
sondern eben genau darum, ihn in seiner persönlichen
Entwicklung zu zeigen. So
spalten sich sein Werk und das jetzt vorliegende Buch in zwei Teile,
die auch
die ehemaligen zwei Bände betitelten. Der erste Band
beinhaltet die Jahre 1770
bis 1806 und heißt "Lebensstationen". Der zweite Band wurde
von
Rosenzweig "Weltepochen" genannt; er umfasst die Jahre 1806 bis 1831.
Erkennen kann man daran bis zu einem gewissen Punkt die
Zielorientierung, die
ein biografisches Schaffen vielleicht im Lauf des Lebens gewinnen kann,
die hier
von Rosenzweig eventuell angedeutet werden möchte. Honneth
meint hierzu, "daß
Hegel erst kurz nach Vollendung seiner Lebensmitte im Jahre 1806 zu der
Erkenntnis gelangt ist, sich von nun an philosophisch auf einer
Augenhöhe mit
der weltgeschichtlichen Entwicklung des Geistes bewegen zu
können."
Diese nach Erscheinen der Bände durchaus kritisierte
Handhabung der Betitelung
sei wohl durchdacht.
Was Rosenzweig in seiner Monografie im Wesentlichen herausstellt, fasst
Honneth
in zwei Sätzen zusammen: "Der rote Faden aber, dem
Rosenzweig in seiner
kunstvollen Verschränkung von Nah- und Gesamtsicht folgt, ist
der der
Darstellung einer schleichenden Selbstuntergrabung von Hegels
ursprünglichen
Absichten: Obwohl dieser von früh an, so können wir
hier lesen, den Staat um
der Freiheit aller einzelnen willen als eine sich selbst
legitimierende,
machtvolle Organisation begreifen wollte und daher von aller
Verwurzelung im
nationalen freizuhalten versucht hat, muß er am Ende doch in
der Konstruktion
seines Systems 'dem vergötterten Staat das Eigenrecht des
Menschen' opfern. An
dem damit konstruierten Zwiespalt laborieren die Anhänger der
praktischen
Philosophie Hegels bis heute; ihn als erster in aller Schärfe
herausgearbeitet
und bis in alle Verästelungen des Werkes nachgewiesen zu haben
ist das
Verdienst von Franz Rosenzweig."
Mehr möchte die Rezensentin dem nicht hinzufügen,
sich jedoch vor der
editorischen Arbeit Frank Lachmanns, der den anno 2010 erschienenen
Band
herausgab, verneigen und den Glückwunsch dafür
aussprechen, dass derartige
Unternehmen noch in Angriff genommen werden, um den Zugang zu einem so
umfassenden und klugen Werk wieder zu ermöglichen.
(Christin Zenker; 11/2010)
Franz
Rosenzweig: "Hegel und der Staat"
Suhrkamp, 2010. 582 Seiten.
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Weitere
Buchtipps:
Michael Gerten (Hrsg.): "Hegel und die Phänomenologie des
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Flach: Begreifen und Begründen. Zur Einschätzung der
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Dialogs zwischen
Christentum und Vernunft unter Aufnahme einiger Überlegungen
aus Hegels Phänomenologie
des Geistes - R. Hiltscher: Geltung und Bestimmtheit. Hegels implizite
Kantkritik in der Einleitung zur Phänomenologie des Geistes -
C. Iber: Der
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des Geistes - G. Prauss: Hegels Aufnahme von Kants Moralphilosophie -
F. Schick:
Der Mythos des Gegebenen und das Meinen sinnlicher Gewissheit: Sellars'
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des Geistes und die Geisteswissenschaften heute - K. W. Zeidler: Zur
Logik des
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Der Herausgeber: Michael Gerten lehrt Philosophie in Bamberg und
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forscht und publiziert zu Problemen der Philosophia prima, v.a. bei
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und im Deutschen Idealismus, und zur Politischen Philosophie. Mitglied
des
Forschungsnetzwerkes Transzendentalphilosophie/Deutscher Idealismus.
(Königshausen
& Neumann)
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Susan
Buck-Morss: "Hegel
und Haiti. Für eine neue Universalgeschichte"
1791 revoltierten die Sklaven von Saint Domingue, dem heutigen Haiti,
unter Absingen der Marseillaise gegen die französischen
Kolonialherren. Die
"schwarzen Jakobiner" bewiesen so die Unteilbarkeit der
Aufklärung.
Diese im Okzident verdrängte Geschichte Haitis wird angesichts
zunehmender
weltweiter Ungleichheit wiederentdeckt. Anknüpfungspunkte
dafür finden sich
ausgerechnet bei Hegel, der die Ereignisse in der Karibik verfolgte.
Seine Überlegungen
zum Verhältnis von Herrschaft und Knechtschaft lesen sich wie
ein Kommentar zum
Geschehen - ohne dass Haiti mit einem Wort erwähnt
würde. Susan Buck-Morss
konfrontiert Hegels Interesse mit seiner Philosophie und skizziert die
Grundlinien einer neuen Universalgeschichte. (Suhrkamp)
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Andreas
Arndt, Jure Zovko
(Hrsg.): "Staat und Kultur bei Hegel"
Staat und Kultur treten erst zu Hegels Lebzeiten in ein
Verhältnis, das später
mit dem Begriff "Kulturstaat" bezeichnet werden wird. Auch gebraucht
Hegel den Terminus Kultur, den Herder gerade erst im modernen Sinne
geprägt
hatte, so gut wie nicht. Dennoch gehört Hegel zweifellos zu
denjenigen Denkern,
die das Verhältnis von Staat und Kultur der Sache nach
verhandelt und neu
bestimmt haben.
Grundlage hierfür ist sein Begriff des Geistes, der alle
Merkmale des modernen
Kulturbegriffs in sich schließt: die Umformung der Natur, die
Gesellschaftlichkeit und die Geschichtlichkeit. Der Staat ist zentrales
Element
des geistigen Prozesses und daher selbst Bestandteil von Kultur, aber
nach Hegel
auch deren elementare Voraussetzung. Hierdurch ist das
Verhältnis von Staat
und
Kultur bei Hegel hoch komplex gestaltet und mitunter im
Einzelnen auch
schwer zu
bestimmen und spannungsreich. (Akademie Verlag)
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