Olli Jalonen: "Vierzehn Knoten bis Greenwich"
Die
Schlange beißt sich in
den Schwanz
"Wenn jemand eine Reise tut, so kann er was erzählen.
Drum nähme ich
den Stock und Hut und tät das Reisen wählen."
(Matthias Claudius,
1740-1815).
Viele Schriftsteller - so auch Johann Wolfgang von Goethe - fassten die
Lust und
den positiven Bildungseffekt einer Reise in Worte: "Die Reise
gleicht
einem Spiel; / es ist immer Gewinn und Verlust dabei, / und meist von
der
unerwarteten Seite; / man empfängt mehr oder weniger, als man
hofft. / Für
Naturen wie die meine ist eine Reise unschätzbar: / sie
belebt, berichtigt,
belehrt und bildet."
In Olli Jalonens Roman, der für den "Finlandia Prize"
nominiert war
und kongenial von Stefan Moster ins Deutsche übertragen wurde,
geht es
gleichfalls um eine Reise oder eher um einen Wettbewerb, einen sehr
ungewöhnlichen
noch dazu. Zu Ehren des 350. Geburtstag des Astronomen und Kartografen
Edmond
Halley, der schon als Zweiundzwanzigjähriger zu Ruhm und Ehren
gelangte, als er
auf St. Helena die Positionen von 341 Sternen des südlichen
Himmels vermaß,
machen sich zwölf Teams auf, entlang des Nullmeridians - "From
Greenwich to Greenwich" - die Erde in einem Jahr zu umrunden.
Erlaubt
sind dabei nur Fortbewegungsmittel, die es zu Halleys Zeiten gab: per
pedes im
Landesinneren, mit einem Segelboot auf dem Wasser und mittels
Luftschiff für
die unwegsamsten Gebiete der Polarregionen und politisch brisante
Gebiete in
Afrika. Außerdem ist es nicht erlaubt, elektronische
Geräte zu benutzen. "Die
Verpflichtung, sich von der modernen Zeit loszusagen, war eine
Simulation des
18. Jahrhunderts und eine Huldigung an Halley."
Team Nummer 6, bestehend aus zwei finnischen Brüdern und einem
britischen
Ehepaar, begleitet der Autor auf dieser Erdumrundung, dem die
zündende Idee zu
seinem Roman auf Napoleons Verbannungsinsel St. Helena kam und der
für die
Recherche unglaubliche 90.000 Kilometer bewältigte.
"Die Welt ist ziemlich klein. Man muss nur einen Entschluss
fassen und
aufbrechen", vermerkt Kari, der als Letzter zu dem Team
stößt,
eigentlich um seinem Bruder Petr die Nachricht vom Tod ihres Vaters zu
überbringen
und die Erbschaft zu regeln, letztendlich aber die Reise bis zum Ende
mit den Anderen
absolviert. Zwei Teammitglieder haben eine Schnur um den Hals, die eine
feine
Ortungselektronik enthält und deren 14 farblich
unterschiedliche Knoten wie ein
Stempelsystem beim Orientierungslauf fungieren. Mittels vager
Andeutungen und Rätsel
müssen nur noch die "Stempelstellen" auf der Erde gefunden
werden.
Doch was anfänglich wie eine interessante Herausforderung
ausieht, wird schnell
zum Grenzwert der eigenen Möglichkeiten. "Weit
über die Hälfte der
Strecke bestand aus Meer, mehr als ein Viertel aus Eis und Schnee.
Bewohntes
Land entfiel auf den Meridian am wenigsten, kaum siebentausend
Kilometer, und
Europa wurde von der Linie nicht einmal zu vier Prozent
berührt."
Jalonen hat seine Erzählung als raffiniertes Konstrukt
unterschiedlichster
Sichtweisen entworfen. Mittels Logbucheinträgen der
Teammitglieder,
Gedankenbruchstücken Petrs und den ausformulierenden Passagen
Karis - ein
Sammeln von Bedeutungssplittern, deren eigentliche Tragweite erst gegen
Ende des
Romans offensichtlich wird - bewegt er sich langsam und
bedächtig Meile für
Meile mit den vier Abenteurern und dem Leser auf dieser
strapaziösen Tour
voran. Gerade mit seiner unaufgeregten Erzählweise dringt er
ganz tief in das
Innere der Menschen und das Befremdliche mancher Gegenden ein.
Stück für Stück
entsteht dadurch eine eigene, logische Wahrheit. "Die Zeiten
lagern sich
Schicht für Schicht übereinander. Wenn man sich
erinnert, erinnert man sich an
Blätter auf einem Stoß: Es werden Löcher
hineingebrannt, in immer anderen
Formationen, und dann werden kurz unterschiedliche Teile sichtbar (...)
die
Dinge gerieten schneller miteinander in Zusammenhang."
Der Duktus von Olli Jalonen offenbart wieder einmal mehr die typische
Erzählweise
vieler nordischer, vor allem finnischer Autoren. Ruhig, gelassen und
neutral öffnet
er Räume und erschafft auf eine subtile Art und Weise
Entfremdungsszenarien
mitten in den Alltag und potenziert diese noch, obwohl sie
zunächst realistisch
und gänzlich neutral daherkommen. Meisterhaft schiebt er
kleine Partikel von
ganz weit hinten ins Bewusstsein, mischt und verrückt sie,
sodass sie anders
verstanden werden. Der Leser selbst befindet sich in der Mitte, und die
Gedankenpartikel strömen zusammen. Allerdings erfordert die
Lektüre ein
gewisses eigenständiges Innehalten und Eintauchen in die
ungewöhnliche Erzählweise.
Aber mit fortschreitender "Breitengradenüberschreitung"
gelingt dies
immer besser. "Das Künftige kann man nicht sehen;
dort, wo man sich
gerade befindet, kann man nur Rand und Schleier des Kommenden greifen."
Fazit:
Vier Menschen auf engstem Raum und ohne technische Hilfsmittel umrunden
den
Nullmeridian der Erde. Olli Jalonens Roman gewährt tiefe
Innensicht in den
Menschen als Individuum und zeigt auf, wie wenig wir uns doch
eigentlich wichtig
nehmen sollten im Gesamtkreislauf der Erde.
"So schnell wird der Mensch ein bisschen ein anderer, auch wenn er von
sich selbst nicht loskommt. (...) Von dem, was früher war,
kommt man nicht los,
aber man kann es zur Seite schieben, damit es keinen Schatten wirft,
vorausgesetzt, im Neuen ist man bei sich und es gibt genügend
Licht und Gutes."
"Sehnsucht ist die Summe der Welt." (Aus "Vierzehn
Knoten
bis Greenwich")
(Heike Geilen; 04/2010)
Olli
Jalonen: "Vierzehn Knoten bis
Greenwich"
(Originaltitel "14 solmua Greenwichiin")
Aus dem Finnischen von Stefan Moster.
Mare Verlag, 2010. 463 Seiten.
Buch
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Olli
Jalonen, am 21. Februar 1954 in Helsinki geboren, studierte
Sozialwissenschaften und hat viele Jahre in
Schweden und
Irland gelebt und
gearbeitet. Er zählt zu den bedeutendsten Autoren Finnlands.
Sein Werk wurde
vielfach ausgezeichnet, u.A. mit dem renommierten "Finlandia Prize"
(1990), und in verschiedene Sprachen übersetzt.
"Vierzehn Knoten bis
Greenwich" ist sein erstes Buch, das auf Deutsch erscheint.