Hermann Kant: "Kennung"
Hermann
ist nicht Immanuel
Ein neues Buch von diesem altehrwürdigen DDR-Haudegen - das
ist fast so etwas
wie eine kleine literarische Situation. Kant (Jahrgang 1926),
gebürtiger
Hamburger, wurde v.a. mit seinem Roman "Die Aula" (1965) auch im
"Westen" bekannt. Marcel
Reich-Ranicki schrieb damals über ihn: "Er
ist zu vielem fähig. Er
weiß Bescheid, er kennt sich im literarischen Gewerbe genau
aus, er versteht
sein Handwerk. Ein intelligenter, ein schlauer Bursche, ein
vielseitiger, ein
wendiger Journalist, ein professioneller und temperamentvoller
Polemiker."
Also alles Andere als der vom damaligen Funktionärsregime
geforderte
dumpfbackige sozialistische "Realist". Dennoch hat man ja durchaus
Widersprüchliches in der verblassenden Erinnerung: es war ja
auch fast
vermessen, ein staatstreuer Präsident des damaligen
DDR-Schriftstellerverbandes
und Mitglied des Zentralkomitees der SED sein zu wollen (und zu
müssen?) und
gleichzeitig ein durchaus stilgewandter und der Ironie keineswegs
abgeneigter
Chronist seiner Zeitläufte.
Nach drei eher nichtssagenden Romanen beschäftigt sich Kant
nun im vorliegenden
Roman mit dem für die Deutschen verschiedentlich vertrauten
Problem, dass man
nicht immer genau zwischen Freund und Feind unterscheiden kann, v.a.
wenn es
noch einmal um das politische Rollenspiel zwischen DDR-Machthabern und
Künstlern
im Jahr 1961 geht, wenn man durch bescheidenes Schweigen oder eine
schlichte
Bemerkung "aktenkundig" werden kann. Dem Kritiker und Essayisten Linus
Cord fällt der Staatssicherheitsdienst lästig, und er
will wissen, ob er sich
noch an die Nummer seiner Wehrmachtserkennungsmarke erinnere. Eine
für die
(damaligen) 1960er-Jahre ebenso brisante wir absurde Angelegenheit.
Cord soll
als siebzehnjähriger Wehrmachtsangehöriger das
Verhalten der Sowjetsoldaten,
als sie ihn gefangen nahmen, als "närrisch"
bezeichnet haben.
Eine Angelegenheit allerdings, deren Aufklärung oder
Nichtaufklärung weder
nachträglich etwas am Ausgang des Krieges ändern noch
die Loyalität zu den
Sowjetgenossen effektiv gefährden kann.
Die Frage ist also, was der Stasi daran gelegen sein mag, den
aufstrebenden
Literaturkritiker dermaßen historisch verspätet noch
einmal unter Druck zu
setzen. Als ginge es nur darum zu beweisen, dass das
Belästigungssystem DDR
perfekt-unterkühlt - fast schon prozesshaft-kafkaesk -
funktioniert. Entgegen
seinem Titel überhaupt nicht bis zur Kenntlichkeit
erzählt Kant verschlüsselt-artistisch
und lässt seine Figuren als Schemen möglicher
Geisteshaltungen agieren. Sämtlich
"Genossen", sind sie doch unterschiedlich "staatstragend",
lavieren zwischen Loyalität und Opportunismus. Obwohl er sich
dem offiziellen
Ansinnen eigentlich verweigert, nimmt Cord quasi privat Kontakt zur
Wehrmachtauskunftstelle in Westberlin auf, wobei er
(selbstverständlich) von
seinen "Genossen" observiert wird. Dennoch hofft Cord in gewisser
Naivität, "künftig schreibe der eine nicht
mehr auf, was der andere im
Gespräch geäußert habe."
Für das Ministerium gibt es kein "vorsätzliches
Voneinanderabsehen", was eben auch nach heutiger Erkenntnis
einen
funktionstüchtigen Überwachungsstaat
auszeichnet.
Der Protagonist und der Leser sollen offensichtlich "verwickelt"
werden, Kant verzahnt seinen Lebenslauf mit dem Schicksal seiner
Hauptfigur, die
"verwirrt" ist. Aber das sei ein Zustand, "den der
Erzähler
mitteilen, aber nicht teilen darf." Man gewinnt beim Lesen
den lästigen
Eindruck, dass sich irgendwie Demagogie und Ironie vermengen, zumindest
mag man
es dem Kant nicht abnehmen, dass er sich womöglich von der DDR
emanzipiert hat.
Kant schaltet sich hin und wieder als auktorialer Erzähler
ein, ohne allerdings
eine eindeutige ideologische Richtung einzuschlagen. Mit scheinbarer
Distanziertheit lässt er seinen Protagonisten in eine
lächerliche Falle tappen
und stellt parallel dazu erzählstrategische
Überlegungen an: "Weil der
Erzähler, hat er sich einmal zum Wunsch nach Allwissenheit
bekannt, immer
halbwegs wissend erscheinen muss, schlägt er Linus Cord zu den
Leuten, die
unter Umständen eher handeln, als daß sie sich
bedenken." Erinnert
wird an die damalige Debatte, ob ein allwissender Erzähler
nicht "unrettbar
altmodisch" sei oder ob ein unwissender und "folglich nur
mutmaßender
Erzähler modernistisch und höchst
verdächtig" sei.
Besserwisserischerweise könnte man hier zumindest einflechten,
dass es damals für
einen gewissen Herrn Uwe Johnson ganz selbstverständlich war,
"Mutmaßungen"
anzustellen und "Zwei Ansichten" zu thematisieren.
Kant lässt Cord in Kritikerkreisen darüber
diskutieren, dass man "zwischen
dem unwissenden Erzähler spätbürgerlicher
Denkungsart und dem frühbürgerlich
allwissenden Erzähler" eine Position finden
müsse. Kant äußert sich
dazu eher bieder, dass sein Erzähler "sowohl seinen
Figuren durch ihre
Geschichte helfen als auch dem Publikum zu deren Verständnis
helfen muß."
Eigentlich geht es hier um das ewige Spiel des Wissens beruhend auf der
schnöden
Erkenntnis: Wissen
ist Macht. Die Stasi spielt mit ihren Untertanen,
der Autor
spielt als Erzähler mit seiner Figur. Und der auf eine
Lösung erpichte Leser
wird sukzessive der Absurdität überlassen und der
Lächerlichkeit
preisgegeben. Man fragt sich am Ende, was überhaupt geschehen
ist. Der Verlag
versprach "ein zur Groteske getriebenes Spiel um Einfluss,
Beschränktheit
und Arroganz eines Machtapparats." Gegen eine von jeglichem
System
verpasste Kennung hilft einmal nur Selbsterkenntnis und zum Andern
eigentlich
nur Flucht oder Rückzug. In der vorgeführten Weise
bleibt Cord allerdings ein
universaler Dilettant. Und Kant gesteht posthum seine Ohnmacht
gegenüber dem
System ein - und dies mit erzähltechnisch
hinterhältiger Arroganz.
Und so kann sich auktoriales Erzählen als Illusion erweisen,
wenn nicht wie zu
Zeiten des Entwicklungsromans der Aufklärung ein
gutbürgerliches
Emanzipationsbedürfnis dahinter steckt. Hermann Kant ist eben
nicht Immanuel
Kant, sein Austritt aus der mitverschuldeten
Unmündigkeit wird vielleicht
unterschwellig intendiert, allein es fehlt die Konsequenz - vielleicht
fehlt ja
auch der Glaube, wenn hier die Anspielung auf "Faust"
auch noch
gestattet sei. Der Glaube an den Sozialismus, der Glaube an seine
Statthalter,
der Glaube an eine veritable Alternative. Dabei wird auch ein wenig
über
Wahrheitsbegriff im Marxismus und in der Hermeneutik
geplänkelt. Und ganz
nebenbei rutscht eine herrliche Satire auf die damaligen Treffen mit
dem SDS
bzw. westdeutschen Intellektuellen dazwischen, welche nach Kants
Darstellung
etwa die Effektivität eines Kindergeburtstages gehabt haben
mussten. Im Übrigen
bekommt Uwe Johnson eventuell auch noch einen zarten literarischen
Streifschuss
ab, indem Cord ein recht dilettantisches Techtelmechtel mit einer
westberliner
Buchhändlerin anstrebt.
Kant scheint uns alle zu veralbern, indem er zum Ende seiner Geschichte
kommen möchte,
"die ihn zunehmend befremdet." Ja, freilich, dem
Cord wird
nicht der Prozess gemacht, weil dann auch der Kant dran kommen
müsste. Und so
geht es um ein großes Nichts: "Du lieber Gott,
wußten diese Kenner der
Verhältnisse wirklich nicht, wie man die Nummer einer
Hundemarke gelangte?"
Nun, bei
Shakespeare hieß das einstmals: "Much Ado
About Nothing"!
Und die Ironie tanzt Harakiri: "Wenn Herr Cord von seiner
Verwirrtheit
spreche, benenne er einen Zustand, in den man ihn auf keinen Fall
versetzen dürfe.
Alle Aufklärung ziele auf Klärung, das stehe in aller
Klarheit fest. Ein Bürger
jedoch, der von seiner Verwirrtheit spreche, entspreche dieser
Zielsetzung
nicht." Allerdings gewinnt Cord den Eindruck, alles sei nur
ein "mißlich
mistiges Geschehen" mit einer zeitraubenden Pointe: "Falls
sie
in Wahrheit gar nicht wissen wollten, wonach sie sich erkundigten,
wollten sie
ihm wahrscheinlich damit etwas sagen." Ja, die Partei geruht
dem
Literaten- und Kritikerpack mitzuteilen: "Verschont uns mit
der Scheiß-Allwisserei!"
Denn allein die Partei ist allmächtig und allwissend. Das
wussten wir aber doch
schon. Es hätte nicht dieses umständlichen Romans
bedurft, um zu verraten, der
Kritiker möge ein Pamphlet wider den allwissenden
Erzähler verfassen. Eine
raffinierte vielschichtige Satire eigentlich, die leider durch
Langatmigkeit
ihres Schwungs und ihrer Überzeugungskraft beraubt wurde. Und
im Übrigen,
lieber Herr Hermann Kant: heute bedarf es keines Mutes mehr, diesen
Stoff zu
entfalten - das hätten Sie schön vor 50 Jahren tun
sollen!
(KS; 03/2010)
Hermann
Kant: "Kennung"
Aufbau-Verlag, 2010. 250 Seiten.
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Hermann Kant wurde 1926 in Hamburg geboren. Er machte eine Lehre zum Elektriker. Im Zweiten Weltkrieg war er Soldat, befand sich von 1945-49 in polnischer Kriegsgefangenschaft. Der Mitbegründer des Antifa-Komitees war im Arbeitslager Warschau und Lehrer an der Antifa-Zentralschule. Ab 1949 besuchte er die Arbeiter- und Bauern-Fakultät Greifswald und studierte von 1952 bis 1956 Germanistik in Berlin. Danach arbeitete er als wissenschaftlicher Assistent und Redakteur. Von 1978 bis 1989 war er Präsident des Schriftstellerverbandes der DDR.