A.L. Kennedy: "Was wird"
Erzählungen
Es dürfte keine Fehler geben
"Ich verstehe vieles - sehr oft - fast immer
-, vor allem die Geschichten. Sie sind wie ich es mir wünsche. Sie sind eine
Willensübung: In ihnen kann alles so sein, wie ich es mir wünsche. Sie sind
Welten: die mir aufs Wort gehorchen, freundlichere, schönere Welten...". Dies
lässt A. L. Kennedy einen ihrer Protagonisten in "Was wird" erzählen.
Geschichten hat die Autorin, die zu Recht als eine der wichtigsten und
talentiertesten Schriftstellerinnen Großbritanniens bezeichnet werden kann, in
dem vorliegenden Band gleichfalls versammelt. Doch ihre "Helden" bewegen
sich mitnichten durch sonnige Gefilde oder rosarote Gegenden. Kennedy zaubert
keine sanfte Aura, sondern schafft eher eine düstere, beklemmende Atmosphäre,
erforscht das Dunkle im Menschen.
In ihren zwölf Erzählungen offenbart sie die unterschiedlichsten
Verstrickungen, in die sich Männer und Frauen begeben können. Sie lotet
Emotionen wie Begehren, Liebe oder Hass aus oder beobachtet Menschen, die ungnädigen
Schicksalen ausgeliefert werden. Kennedys Protagonisten sind zumeist verstört
oder verletzt - dunkle Texte über Knochenschmerz, Verlorensein und Verlieren.
Die Autorin dringt sehr tief in die Psyche eines Menschen ein, dokumentiert überall
dunkle Anzeichen großer Verwerfungen, zeigt "das Gift im Wasser, die böse
Farbe im schlüpfrigen Dunkel". Das ist berührend, schmerzhaft, manchmal fast
unerträglich. "Meine Aufgabe ist es, den Leser zum Weinen zu bringen, und dafür
muss er verstehen, was ich sage. Es ist ein Spiel", erklärte die schottische
Schriftstellerin in einem Interview. Und das kann wahrhaftig passieren, wenn man
sich auf ihren Duktus, der zugegebenermaßen nicht ganz einfach und leicht zu
konsumieren ist, einlässt.
Da ist ein Paar, das alles verloren hat und nun in einer
geliehenen Wohnung lebt, oder zwei Leute probieren in einem Hotelzimmer, wie sich
Sex mit Fremden anfühlt. Hier findet sich große Trauer aufgrund des Verlustes
eines Kindes, da tauchen in einer Wellness-Anlage traumatische
Kindheitserinnerungen auf - wie sich die Eltern hinter verschlossener
Schlafzimmertür prügelten. Eine andere Geschichte erzählt von einem jungen
Soldaten, der mit seinen Freunden in einem öffentlichen Schwimmbad herumalbert.
Ihr gemeinsames Manko - sie sind körperliche Invaliden, was eine anwesende
Schulklasse und besonders deren Lehrerin verstört: "Sie müssen doch
einsehen, dass Sie befremdlich wirken. Sie sind verstörend. Es muss doch Orte
geben, wo Sie es angenehmer hätten."
Noch einmal soll A. L. Kennedy zu Wort kommen: "Ich habe mich entschieden, ein
Buch zu schreiben über Menschen, deren Herz gebrochen ist und die sich deshalb
in einer schrecklichen Situation befinden. Es sind Kurzgeschichten, und der
Radius einer solchen Geschichte ist nicht groß genug, um sie bis zu einem Happy
Ending zu führen. Es wäre unangemessen, billig. Unwürdig. Ich sage nicht,
dass die Wirklichkeit so ist. Ich glaube auch nicht, dass es für alle Menschen
zutrifft. Ich sage nur, es wäre mitleidlos." Wie sie dies tut, zeichnet ihr
großes Talent aus. Kennedy bleibt zuweilen in einem Zwischenraum hängen, in
einem Lichtzwischenraum, "bis Nichtigkeiten Schatten werfen, bis die Sandtürmchen
und Bruchstücke Substanz und Tiefe gewinnen, auf einmal nach Architektur
aussehen, wie die Ruinen einer fernen Stadt, kilometerweit unter uns,
verlassen." Begrenzungen enthalten die Texte der Schottin kaum, und wenn sie
sich doch zu erkennen geben, dann verwischt sie sie zunehmend, macht sie
undeutlich.
A. L. Kennedy schafft mit literarischen Mitteln unsichtbare Räume. Der Übersetzer
Ingo Herzke hat sie dem deutschsprachigen Leser eindrucksvoll zugänglich
gemacht.
Fazit:
Manchmal bedrückend und deprimierend, zuweilen humorvoll, auch wenn dieser
Humor härter und grimmiger daherkommt, als bei anderen Autoren: das sind die zwölf
Kurzgeschichten in A. L. Kennedys Buch "Was wird" - Erzählungen über das
Dunkle und Beklemmende in uns Menschen und wie wir doch immer danach streben,
"glücklich zu sein, einzeln zu sein, jemanden für mich zu haben, tapfer zu
sein, geliebt, gehasst, verängstigt zu sein, eine Familie zu gründen, ohne
Familie zu bleiben, den vollkommenen Schmerz zu finden."
"Wenn man zu viel über Sachen nachdenkt, verlassen sie einen." (Aus
"Was wird")
(Heike Geilen; 01/2010)
A.L.
Kennedy: "Was wird. Erzählungen"
Übersetzt von Ingo Herzke.
Verlag Klaus Wagenbach, 2009. 224 Seiten.
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