Volker Reinhardt: "Der Göttliche"
Das Leben des Michelangelo
Ein
Leben für die Kunst - das Leben als Kunstwerk oder Il
terribile, der Schreckliche?
Steht man vor seinem imposanten David, seiner bedrückend
schönen Pietà oder dem ausdrucksstarken Moses, so
wird man augenblicklich in den Bann gezogen. Nie hat man Marmor mit
solch technischer Vollendung, geschweigedenn Ausdruckskraft bearbeitet
gesehen. Von der erhabenen Ergriffenheit, der Kühnheit der
Erfindung, der Expressivität der Gesichter und Gesten und der
Emotionen, die die Deckenfresken und "Das Jüngste Gericht" in
der Sixtinischen Kapelle ausdrücken und vermitteln, ganz zu
schweigen. Die Faszination, die von Michelangelos Kunstwerken ausgeht,
ist schon fast mystisch zu nennen, obwohl ihnen jegliche sakrale
Verklärung abgeht. Seine "Götter" eignen sich
eigentlich nicht zum religiösen Anbeten. Die Aura, die sie
umgibt, ist anderer Natur, entspringt einem Formenduktus, dessen Teile
sich zueinander verhalten wie Reime bei einem Gedicht.
Schon zu Lebzeiten buhlten die Mächtigen um die Gunst des
Ausnahmekünstlers. Doch dieser ließ Päpste,
Könige, Fürsten und republikanische Eliten sich
niemals sicher fühlen. "ER bestimmte, wem er die
Gunst seiner Werke zukommen ließ, ER legte Fristen und Preise
fest - und ER gab ihnen seinen eigenen Sinn." Seine
Auftraggeber durften sich niemals sicher fühlen, "dass
seine Botschaft der von ihnen beabsichtigten Aussage des Werks
entsprach" oder ob ihre teuer bezahlten Auftragskunstwerke
ihren Ruhm oder gar ihre Erbärmlichkeit verkündeten.
Es entstand der Mythos von Michelangelo,
il terribile, der Anderen Schrecken einjagt, sie einschüchtert
durch seine Wildheit, aber auch durch Großartigkeit:
Schroffheit, gepaart mit Unnahbarkeit, Misstrauen und dem Bestehen auf
pünktlicher Bezahlung; Schöpferkraft versus Ungeduld,
Zorn und Melancholie. Eigenschaften, für die das Genie bereits
Anfang des 16. Jahrhunderts berühmt beziehungsweise
berüchtigt war. Das "Schreckliche war ein Teil des
Göttlichen. Die Erhabenheit des Herrn
flößte seinen Kreaturen Angst ein."
Erneut hat sich ein Autor an dem gewaltigen Sujet des Lebens von
Michelangelo di Lodovico Buonarroti Simoni und des
Unauflöslichen, Rätselhaften und Geheimnisvollen
seiner Werke versucht. Doch Volker Reinhardt, Professor für
Geschichte der Neuzeit an der Universität Fribourg, stimmt
nicht in den Kanon der Mythenbildung ein. Er betrachtet den Bildhauer,
Maler und Architekten von einer Seite, die dieser ebenfalls virtuos
beherrschte - der Sprache. Durch fast alle seine Briefe zieht sich, "mehr
oder weniger untergründig, das Leitmotiv der Ironie; die
spiegelt die vorherrschende Seelenlage des Verfassers zwischen
Aggression, Sarkasmus und Angst wider." Für
Reinhardt ist, unter dem Aspekt der Kommunikation und damit der
Inszenierung betrachtet, Michelangelos Korrespondenz ein
Gesamtkunstwerk, an dem er die Anderen unter seiner Regie mitwirken
ließ. Und als solches deutet er dessen biblisch langes
Ausnahmeleben voller Gegensätze in seiner ganzen
Vielschichtigkeit.
Einzigartig an der von der ersten Seite an faszinierenden Biografie ist
auch ein ganz neuer Weg, den der Autor geht: die Ehre seiner Familie,
einer der ältesten Feudalgeschlechter in Norditalien, deren
Vornehmheit jedoch schon einige Zeit zurücklag. "Bei
aller Individualität verstanden sich die Menschen der
Frühen Neuzeit in einem heute kaum noch nachvollziehbaren
Maße als Teil eines Ganzen: der Familie als Gemeinschaft der
Toten, Lebenden und Kommenden. Aus dem Ansehen, das diese
Abstammungsgemeinschaft genoss, zogen sie ihr Selbstbewusstsein, ja
ihre Identität." Auch der
Ausnahmepersönlichkeit galt der Vorrang der Familie, "und
zwar umso mehr, als ihm die Ehre, die er durch seine Abkunft
einforderte, anfangs nicht zuteil wurde."
Reinhardt gelingt es durch seine Kombination aus eigener
Interpretation, geschichtlichen Abrissen und von Zeit zu Zeit
eingeflochtenen Briefdokumenten sowie nicht zuletzt durch die vielen
farbigen und grafischen Zeitzeugnisse der Kunst Michelangelos, diesen
als Menschen zu sehen. Der Autor gibt dessen bereits zu Lebzeiten als
eine Art Markenzeichen eingeführten Beinamen " il
divino", der Göttliche, eine ebenso unerwartete wie
konkrete Bedeutung: "der Künstler als Richter, seine
Werke als Vorwegnahme des Jüngsten Tages."
Fazit:
Gab das Bestreben, die Familienehre einzulösen, seinem Leben
konkrete Ziele und damit sozialen Sinn? Hielt sich der
Künstler für vornehmer als seine Auftraggeber?
Glaubte er sich zudem berechtigt, ja verpflichtet, Urteile
über sie zu fällen, gerade wegen seiner eigenen
asketischen Lebensweise, "die einer irregehenden Zeit die
wahren Werte vor Augen führen sollte"?
Volker Reinhardt arbeitet in seiner komplexen Biografie, vor dem
Hintergrund der florentinischen und vatikanischen Renaissance zu Anfang
des 16. Jahrhunderts, die Haltung Michelangelos heraus, die viele
seiner Werke prägt: Distanziertheit, Kritik, nicht selten
Selbstironie bis hin zu Hohn.
Ein vielschichtiges, interessantes, intellektuelles und historisch
überzeugendes Werk.
(Heike Geilen; 04/2010)
Volker
Reinhardt: "Der Göttliche. Das
Leben des Michelangelo"
C.H. Beck, 2010. 384 Seiten.
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