Markéta Pilátová: "Wir müssen uns irgendwie ähnlich sein"
Weiblicher
Blick auf die Heimat
Vor allem geht es um Jaromír, einen Tschechen, der sich
während der nationalsozialistischen Besetzung im Widerstand
engagierte, nach Kriegsende und kommunistischer Machtübernahme
aber keinen Anschluss an die Heimat finden kann und sich in Brasilien
niederlässt. Sein Kontakt zur verlassenen Heimat
beschränkt sich auf seine Vorkriegsliebe Maruška
und den ehemaligen Geografieprofessor aus dem mährischen
Kleinstadtgymnasium.
Ganz allgemein geht es um den männlichen und weiblichen Blick
und den Umgang mit Heimat und Exil, um Sehnsüchte und das
Nachholen augenscheinlich versäumter Lebenschancen in anderen
Erdteilen.
Jaromír blieb über Jahrzehnte mit der
Ministerialbeamtin Maruška in brieflichem Kontakt, heiratete
in Brasilien aber Luiza, die Tochter deutscher Auswanderer, die der
rege Austausch tschechischer und für sie
unverständlicher Briefe rasend eifersüchtig macht.
Nach Jaromírs Tod - und nach dem Ende des Kommunismus steht
Luiza vor der Tür der schon über
achtzigjährigen Maruška: "Wir
müssen uns irgendwie ähnlich sein, wo er uns doch
beide geliebt hat." Mit Hilfe zweier junger Frauen,
Töchter tschechischer Emigranten in Brasilien, beginnen die
beiden betagten Damen knapp vor Ende des eigenen Lebensweges das Leben
des tschechischen Jaromír und des brasilianischen Yaromir
wie ein Puzzle zusammenzusetzen. Lena und Marta, die beiden
Remigrantinnen, finden in ihnen Anschluss zu den beiden bisher teils
unverständlichen biografischen Polen ihrer Elterngeneration.
Eigene Lebenskrisen und unerfüllte Lieben mengen sich ein in
die Lebensgeschichte des Dreiecks Jaromír/Yaromir -
Maruška -Luiza. Nicht jede Handlung und jeder Kontakt des
verstorbenen Jaromír war von Liebe geleitet ...
Der Roman besteht aus kurzen Texten, in denen jeweils eine der vier
Protagonistinnen, seltener auch Jaromír in Form von Briefen
oder Tagebucheintragungen, als Ich-Erzähler auftritt. So wie
sich das Leben der Personen sich zunehmend miteinander
verknüpft, verketten sich die einzelnen Texte erst im Laufe
des Romans und erschließen sich gegenseitig. Nicht Jede
weiß alles - aber der Leser gewinnt aus der Textkombination
zusätzliche Einsichten.
Die Autorin, die Romanistin und Übersetzerin
Markéta Pilátová, geboren 1973, lebt
seit mehreren Jahren in Lateinamerika. Einige Zeit verbrachte sie auch
als Tschechischlehrerin für Emigranten in São
Paulo. Obwohl sie selbst die Zeit der deutschen Besetzung gar nicht
mehr und den Kommunismus nur als Kind in der Endphase erlebte, gelang
ihr eine spannende und äußerst kurzweilig zu lesende
Darstellung der tschechischen Sicht auf zwei fast aufeinander folgende
totalitäre Regime. Gleichzeitig zeigen die vier Hauptpersonen
unterschiedliche Zugänge und Umgangsweisen mit den Regimen,
die von hoffnungsvoller Anpassung bis zur rigorosen Ablehnung jeder
persönlichen Kontaktaufnahme mit der alten Heimat reichen.
(Wolfgang Moser; 05/2010)
Markéta
Pilátová: "Wir müssen uns irgendwie
ähnlich sein"
Aus dem Tschechischen
von Michael Stavarič.
Redaktion Mirko Kratetsch.
Residenz Verlag, 2010. 206 Seiten.
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Markéta
Pilátová wurde 1973
in
Prag geboren. Nach einem Studium der Romanistik und
Geschichte ist sie heute als Autorin, Übersetzerin und
Journalistin tätig. Sie arbeitet in der Kulturabteilung des
Prager "Instituto Cervantes".
Ein weiteres Buch der Autorin:
"Mein Lieblingsbuch"
In den Kulissen eines imaginären lateinamerikanischen Landes
entspinnt sich die von Träumen und Übersinnlichem
angereicherte Geschichte um ein Forschungsinstitut, in dem zum Heil der
Menschen Schlangen gepeinigt und getötet werden. Unter den
Protagonisten des lustvoll erzählten und zugleich
tiefgründigen Geschehens, das sich um den
weltberühmten, ambitiösen und skrupellosen
Reptilienforscher Vidal und sein Institut rankt, sind eine der
Schlangensprache kundige Halbindianerin, eine Prostituierte, eine
Top-Mafiajägerin, ein Heiler, ein homosexueller Psychiater und
dessen aus Polen stammender jüdischer Vater. Den Rahmen und
den roten Faden der spektakulär endenden Handlung bilden aber
die Kommentare des geheimnisvollen Tätowierers. Wie die um ihr
Leben erzählende Scheherazade aus Tausendundeiner Nacht
erzählt er Geschichten, deren Motive auch in seine
Tätowierungen einfließen. Geschickt verspinnt
Markéta Pilátová Märchen- und
Folkloremotive, packende Schicksale und treffende Milieuschilderungen
aus der drastischen Realität von Megametropolen wie
São Paulo und Buenos Aires. (Braumüller)
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Jirí Kratochvil wurde 1940 in
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dem Studium in Brünn begann
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viele tschechische Autoren, von einem Publikationsverbot betroffen.
Kratochvil jedoch veröffentlichte weiter, in
Untergrundverlagen - im "Samizdat".
Der Prosaschriftsteller, Dramatiker, Essayist und
Hörspielautor
zählte in den 1990er-Jahren zu den bedeutendsten Vertretern
der tschechischen
Postmoderne. 1991 erhielt er den britischen "Tom-Stoppard-Preis", 1999
wurde er mit
dem bedeutendsten Literaturpreis Tschechiens, dem
"Jaroslav-Seifert-Preis",
ausgezeichnet. (Braumüller Literaturverlag)
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Radka
Denemarková: "Ein herrlicher Flecken Erde"
Gita muss in ihrem Leben durch mehrere Höllen gehen: von den
Nazis als Jüdin
gequält, von den Tschechen als Kollaborateurin vertrieben,
schließlich von den
ehemaligen Nachbarn als habgierige Alte abgestempelt, als sie den
Familienbesitz
zurückfordert. Doch trotz aller körperlicher und
emotionaler Wunden führt
Gita den Kampf gegen Unrecht und für Verständigung
weiter. Ebenso
kompromisslos wie ergreifend schildert dieser preisgekrönte
Roman die menschliche Seite der unmenschlichen Geschichte.
Gita will nur nach Hause, sich unter der warmen, weichen Decke
verkriechen, den
geliebten Geruch der Villa in sich aufnehmen. Doch die
Realität sieht anders
aus, als die Sechzehnjährige 1945 aus dem Konzentrationslager
zurück in ihr
Heimatdorf, das tschechische Puklice, kommt. Der Familienbesitz wurde
konfisziert, Fremde leben jetzt dort, und die Deutschsprachige wird als
Staatsfeindin verjagt. Erst sechzig Jahre später kehrt Gita
zurück, um die
Familie zu rehabilitieren. Und wieder schlägt ihr als
ehemaliger Großgrundbesitzerin
der Hass der Dorfbewohner entgegen. Doch längst ist
für Gita Weiterleben zur
Kampfansage gegen Gewalt und Lüge geworden. Mutig, mit sehr
plastischen, unter
die Haut gehenden Bildern und mit enormer Sprachmacht wagt dieser
kompromisslose Roman, für den die Autorin mit dem
bedeutendsten tschechischen
Literaturpreis ausgezeichnet wurde, einen Blick auf die
verdrängte
deutsch-tschechische Nachkriegsgeschichte.
Radka Denemarková, geboren 1968, studierte Germanistik und
Bohemistik in Prag, wo sie 1997 promovierte. Sie unterrichtet am
Institut für
tschechische Literatur in Prag, übersetzt aus dem Deutschen
und arbeitet
als freie Journalistin. "Ein herrlicher Flecken Erde", ihr zweiter
Roman, wurde
mit dem "Magnesia Litera" ausgezeichnet und verfilmt. (DVA)
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