Hans Joachim Schädlich: "Kokoschkins Reise"
Eine große Reise
Fjodor Kokoschkin, fünfundneunzig Jahre alt, Exilrusse und
emeritierter Biologieprofessor, ist der sympathische Protagonist in
Hans Joachim Schädlichs Roman "Kokoschkins Reise". Ein Roman,
dessen Handlung man auch unter dem Begriff "Erinnerung an das
zwanzigste Jahrhundert" zusammenfassen könnte. Wenn man
bedenkt, dass Hans Joachim Schädlichs Roman "nur" 189
großzügig bedruckte Seiten hat, ist das ein
gewagtes, mutiges Unterfangen.
Hans Joachim Schädlich lässt seinen Helden im Jahr
2005 zurück nach Europa reisen, wo er davor erst einmal nach
seiner Emigration in die Vereinigten Staaten von Amerika war, und das
im Prag und der damaligen Tschechoslowakei des Jahres 1968, als er das
Scheitern des Prager Frühlings durch die brutale und blutige
Intervention der Sowjets miterlebte, um wichtige Orte seiner Kindheit
noch einmal zu besuchen.
Einen guten, alten Bekannten aus dem Prag des Jahres 1968 stellt er
Fjodor Kokoschkin als Reisebegleiter und literarisches Ohr zu Seite.
Während Kokoschkin seinem Reisepartner Jakub
Hlavácek in St. Petersburg, Prag und Berlin die Geschichte
seiner Kindheits- und Jugendjahre erzählt, hat Fjodor
Kokoschkin in abwechselnden Szenen schon die Heimreise von Southampton
nach New York an Bord der "Queen Mary II" angetreten. Virtuos wechselt
Hans Joachim Schädlich zwischen diesen zwei Reisen, die in
Summe ein großartiges Porträt eines wundersamen
Mannes als Zeuge eines gewaltsamen und harten Jahrhunderts ergeben.
Als der Vater des achtjährigen Fjodors 1918 von den
Bolschewiken ermordet wird, flieht er mit der Mutter zuerst nach
Odessa, von wo die Flucht zuerst nach Prag weiterführt.
Wichtige russische Schriftsteller, wie der erste russische
Nobelpreisträger Iwan
Bunin, Nina Berberowa und Wladislaw Chodassewitsch begleiten
sein Leben. 1934 flieht er vor der Naziherrschaft nach Prag, das sich
für ihn als Zwischenstation auf dem Weg in die Vereinigten
Staaten von Amerika erweisen wird.
"Im Hotel sagte Kokoschkin: Mama kam nach Hause und weinte.
Sie sagte, Papa sei im Hospital gestorben. Ich weiß nicht,
von wem sie erfahren hatte, was geschehen war.
Ich wollte ins Hospital, Papa noch einmal sehen.
Mama sagte, das gehe nicht, dort herrsche Seuchengefahr.
Sie weinte und schrieb einen Brief. Unser Hausmädchen brachte
den Brief fort.
Das Hausmädchen kam nach zwei Stunden mit einer Antwort
zurück.
Mama packte zwei Koffer, einen für mich, einen für
sich. Das Hausmädchen half ihr. Zuletzt legte Mama unsere
Papiere, Geld und ein gerahmtes Foto von Papa in ihren Koffer."
An Bord der "Queen Mary II" trifft Fjodor Kokoschkin die um etwa
fünfzig Jahre jüngere Olga Noborra, der die Rolle der
Begleiterin des charmanten Kokoschkin auf der Heimreise
zufällt. Beeindruckend, wie Schädlich es schafft, aus
einer reinen Zufallsbegegnung eine nach den Regeln der alten Schule
ganz leicht erotisch angehauchte Art des Umgangs miteinander entstehen
zu lassen, ohne dabei je zu vergessen, dass Olga Noborra zu ihrem Mann
zurückreist und Fjodor Kokoschkin ein rüstiger
fünfundneunzigjähriger Mann ist.
Hans Joachim Schädlichs Prosa ist das Resultat einer
absoluten, von allen oberflächlichen Farb- und Geruchssinnen
befreiten, reduzierten Erzählweise, die, ähnlich
einem Destillat, besonders intensiv und überraschenderweise
höchst poetisch ist. Sein bewusster Verzicht auf Metaphern
zwingt ihn, nur das wirklich Wichtige zu sagen, was diesem gewichtigen,
schweren Thema auf frappierende Art sehr entgegenkommt. Dezente
Querverbindungen, Hinweise, Übereinstimmungen und ein subtiles
metrisches Gerüst geben seinem Roman die feine, abgerundete
und funktionierende Form, die die verschiedenen Schichten dieses Romans
so überzeugend lebensfähig machen.
"Kokoschkins Reise" ist ein beeindruckender, großer Roman
eines reifen, wichtigen und äußerst originellen
Schriftstellers mit einer unverkennbar eigenen Sprache, dem der
Rezensent im Dickicht der vielen deutschsprachigen Neuerscheinungen
eine positive Resonanz und eine zahlreiche Leserschaft wünscht.
(Roland Freisitzer)
Hans Joachim Schädlich:
"Kokoschkins Reise"
rororo, 2015. 189 Seiten.
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"Narrenleben"
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kurfürstlich-königlicher Taschenspieler und Lustiger Rat am Dresdner Hof,
Vertrauter Augusts des Starken - der Einzige, der ihn duzen darf -,
fürsorglicher Familienvater, der sich am Elbufer auf einem Grundstück, das
August ihm geschenkt hat, ein Haus baut: ein menschenfreundlicher und
wohltätiger Mann. Doch auch ein Spielball des Kurfürsten.
Ganz anders das Leben von Peter Prosch (1744-1804), einem Tiroler aus ärmsten
Verhältnissen und von heiter-naivem Naturell, der in Österreich und
Süddeutschland von Fürstenhof zu Fürstenhof zieht - ihm ist es nicht vergönnt,
eine Stelle zu erlangen. In einem fiktiven Brief an Joseph Fröhlich beklagt er,
dass die Fürsten und ihre Günstlinge üble, oft grausame Scherze mit ihm treiben:
Man will ihm ein Kind unterschieben, man erklärt ihn zum Taufpaten eines Esels,
man heftet ihm einen falschen Bart an und steckt ihn in Brand, man bindet ihn am
Sattel eines wilden Pferdes fest - alles zur Belustigung der Herren. Er erduldet
es, denn: "Je mehr ich ertrage, desto größer ist mein Ertrag."
Hans Joachim Schädlich macht erneut, kunstvoll und verknappt, zwei historische
Gestalten und ihre Zeit lebendig. Mit diesem Roman über Macht und Moral,
Abhängigkeit und Selbstachtung fügt er seinem Werk ein weiteres Bravourstück
hinzu. (Rowohlt)
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