Andreas Hansert: "Schopenhauer im 20. Jahrhundert"
Geschichte der Schopenhauer-Gesellschaft
Die
Sachwalter Schopenhauers ziehen Bilanz
Schopenhauers Todestag jährte sich im Jahr 2010 zum
einhundertfünfzigsten Mal, und die Verlage halten ein breites
Angebot an älteren und frischen Texten, Kommentaren und
Biografien bereit. Den Leser freut's. Doch neben dem
einhundertfünfzigsten Geburtstag steht in Kürze auch
der einhundertste Jahrestag der 1911 gegründeten
Schopenhauer-Gesellschaft an, was diese bereits anno 2009 zum Anlass
nahm, den 1958 geborenen Historiker Dr. Andreas Hansert mit einer
Monografie über die Geschichte der Gesellschaft zu
beauftragen. Am 29. November 2010 wurde in den Räumen des
Frankfurter Instituts für Stadtgeschichte das Buch
vorgestellt, und wir wollen einen Blick auf Buch und Gegenstand werfen.
Das Schopenhauer'sche Feuer schwelte und flackerte nach dessen Tod im
Jahr 1860 in einer ganzen Reihe von Köpfen weiter, Nietzsche
ist da zu nennen, Thomas Mann, Sigmund Freud. Auch Paul Deussen, ein
Studienfreund Nietzsches, der von diesem Mitte der 1860er-Jahre auf
Schopenhauers Schrift "Die Welt als Wille und Vorstellung" aufmerksam
gemacht wurde, die ihn fortan Zeit seines Lebens mit dessen Werk
verbinden sollte. Deussen absolvierte die Schopenhauer versagt
gebliebene philosophische Universitätskarriere und machte sich
u. A. einen Namen mit der Übersetzung der "Upanishaden", einer
wissenschaftlichen Arbeit, die bereits Schopenhauer eingefordert hatte.
Paul Deussen arbeitete nun auf die am 30. Oktober 1911 erfolgte
Gründung die Schopenhauer-Gesellschaft hin, die der
Einfachheit halber am Wohnsitz Deussens in Kiel angesiedelt wurde. Ihre
Aufgabe sah die Gesellschaft in der Erforschung von Leben und Werk
sowie dem Aufbau einer Schopenhauer-Sammlung. Nach dem Tod Deussens im
Jahr 1919 wurde der Gesellschaftssitz nach Frankfurt verlegt. Damit
begann die zweite Phase der Schopenhauer-Gesellschaft.
Bereits anno 1921 schlugen sich die aufkommenden neuen politischen
Verhältnisse nieder, und es kam zur Abspaltung der
völkischen "Neue[n] Deutsche Schopenhauer-Gesellschaft". Doch
auch die alte Schopenhauer-Gesellschaft hatte mit der neuen Zeit zu
kämpfen, denn einige Nazis, darunter Rosenberg, Bormann und
selbst Hitler, entdeckten Schopenhauer für sich und nahmen
natürlich massiv Einfluss auf die Gesellschaft. Viele
Mitglieder exilierten nun, einige blieben und führten die
Gesellschaft weiter. Doch genau darin lag die erste Herausforderung des
Historiografen, denn ab 1936 übernahm Arthur Hübscher
die Geschicke der Gesellschaft und dominierte diese über sein
Präsidium hinaus bis in die 1980er-Jahre hinein. Er verfasste
zwar eine Reihe von Büchern zu Schopenhauer und gab auch eine
historisch-kritische Gesamtausgabe heraus, dennoch geht der Autor mit
Hübscher, der im Zug seines Rehabilitierungsprozesses nach dem
Krieg die Wahrheit schon kräftig strapaziert hatte, ordentlich
ins Gericht. Insofern kommt diesem Buch eine große Bedeutung
zu, weil es eine allzu deutliche Hagiografie, im Wesentlichen auf
Hübscher selbst zurückgehend, durch Quellen
untermauert freilegt und korrigiert.
Mit der Jubiläumsfeier 1961 endet des Autors
historiografischer Anspruch, denn die Aufarbeitung der letzten 50 Jahre
soll einer späteren Generation vorbehalten bleiben, weil die
zeitliche Nähe zu den Akteuren noch zu groß ist, um
"frei mit den Akten umgehen zu können", wie der
Präsident der Gesellschaft im Vorwort schrieb. Dennoch
skizziert der Autor die Entwicklung der Gesellschaft, allerdings mit
merklicher Zurückhaltung, bis in die 1980er-Jahre hinein. Das
Ende der Epoche Hübscher in dieser Zeit verlief wieder recht
turbulent, und es stellt sich der Eindruck ein, als sei
Hübscher zwar überwiegend, doch keineswegs
dafür alleinig verantwortlich zu machen. Kaum vorstellbar
erscheint heute, dass die Schopenhauer-Gesellschaft noch 1985
zustimmte, dass Hübscher auf dem Frankfurter Hauptfriedhof
gewissermaßen neben Schopenhauers Gebeinen "Quartier
nahm" - man glaubt sich als Leser inmitten eines
Stücks Eugène Ionescos. Wer den stets auf Distanz
bedachten Schopenhauer nur ein wenig kennt, vermag
einzuschätzen, welch ungeheure Ignoranz in diesem Akt lag.
Der Autor geht auch auf die Schopenhauer-Kongresse und die damit
verbundenen Jahrbücher ein, die natürlich
für die Forschung von großer Bedeutung waren und
sind. Hier würde man sich wünschen, dass zumindest
die nicht mehr auf dem Markt verfügbaren Jahrbücher
digitalisiert und im weltweiten
Netz eingestellt werden.
Ein weiteres Thema des Buches sind natürlich die
Schopenhauerania, also Gegenstände aus seinem Nachlass oder
seinem Umfeld. Noch im Jahr 1938 erwarb das Schopenhauer-Archiv viele
wertvolle Stücke. Als im März 1944 nach einem ersten
verheerenden Luftangriff die Sammlung in Sicherheit gebracht werden
sollte, vereitelte dies ein zweiter Luftangriff, dem fast alles zum
Opfer fiel. Nach dem Krieg begann man, den Verbleib der Stücke
zu ermitteln. Vieles war zerstört, Manches in dunklen
Kanälen verschwunden, Einzelnes tauchte in Auktionen wieder
auf, um dort viel Geld einzubringen - entsprechend beklagenswert ist
der heutige Bestand.
Die Schopenhauer-Gesellschaft startete im Jahr 1911 sehr
vielversprechend, durchlebte aber in den zwanziger und den achtziger
Jahren kräftige Turbulenzen. Doch nun scheinen entspannte und
produktive Zeiten auf die Gesellschaft zuzukommen, und sie hat allen
Grund, sich im nächsten Jahr anlässlich des 100.
Gründungstags selbst zu feiern, sich und Schopenhauer
natürlich. Das vorliegende Buch schließt eine
bedeutende Lücke und ermöglicht dem
außenstehenden Betrachter einen notwendigen Einblick in die
Geschichte der Gesellschaft. "Schopenhauers Erbe hat durch
Krieg und NS-Herrschaft materiell, wohl aber auch ideell
beträchtlichen Schaden genommen", schreibt der
Autor. Schopenhauers schwieriges Verhältnis zu Wissenschaft
und Gesellschaft zu Lebzeiten scheint sich bis in die jüngste
Zeit gehalten zu haben, wenngleich sich nach dem Paradigmenwechsel in
den 1980er-Jahren bei der Schopenhauer-Gesellschaft einiges getan zu
haben scheint. Der Präsident der Schopenhauer-Gesellschaft,
Prof. Matthias Koßler, leitet auch die
Schopenhauer-Forschungsstelle an der Universität Mainz und
verschafft dem Jubilar so einen späten Zugang zu dem
Schopenhauer selbst so verhassten universitären Betrieb.
Koßler bescheinigt seiner Zunft allerdings eine
"bemerkenswerte Ignoranz" gegenüber dem Werk
Schopenhauers, dessen Erforschung weitgehend in den Händen der
Schopenhauer-Gesellschaft lag. Auch die oft mangelnde logische
Konsistenz seiner Gedanken trug, so Koßler, das Ihre dazu
bei, denn Schopenhauer bemerkte schon in seinen "Parerga und
Paralipomena": "Meine Sätze ... beruhen meist nicht
auf Schlussketten, sondern unmittelbar auf der anschaulichen Welt
selbst."
Schopenhauer betonte zu Anfang des ersten Bandes seines Hauptwerkes
"Die Welt als Wille und Vorstellung", dass man dieses - nebst anderen -
komplett kennen müsse, bevor man mit der Lektüre
beginnen könne. Und so erging es dem Rezensenten auch ein
wenig mit diesem Buch, denn erst nachdem sich das Gesamtbild gesetzt
hatte, wurden die Details deutlich. Das liegt wohl an den
notwendigerweise nur lose geknüpften Enden der Geschichte der
Schopenhauer-Gesellschaft.
(Klaus Prinz; 12/2010)
Andreas
Hansert: "Schopenhauer
im 20. Jahrhundert.
Geschichte der Schopenhauer-Gesellschaft"
Böhlau Verlag, 2010. 248 Seiten.
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