Arthur Schopenhauer: "Senilia. Gedanken im Alter"
Herausgegeben von Franco Volpi und Ernst Ziegler
"Man
muss nur hübsch
alt werden: da giebt sich Alles."
Mit diesem berühmten und auf den ersten Blick für
Schopenhauer atypischen Satz
endet das Vorwort des inzwischen verstorbenen Italieners Franco Volpi,
der
zusammen mit dem Schweizer Ernst Ziegler dieses
außergewöhnliche Buch
herausgegeben hat. Der im Jahr 2009 verstorbene Philosoph und
Philosophiehistoriker Franco Volpi war Professor an der
Universität Padua und
betreute die italienischen Ausgaben der Werke Schopenhauers und
Heideggers bei
dem Mailänder Verlag Adelphi. Ernst Ziegler, Historiker und
Paläograf, ist
Privatdozent in St. Gallen und ehemaliger Stadtarchivar St. Gallens.
Im April 1852 legte Schopenhauer ein 280-seitiges Manuskriptbuch an,
das er mit
diesen Worten begann: "Dieses Buch heißt Senilia,
angefangen zu
Frankfurth a. M., im April 1852." Bis zu seinem Tode im
September 1860
beschrieb er 150 Seiten mit Gedanken zu Welt und Werk,
Naturwissenschaften,
Philosophie, Sprache und Gesellschaft. Vieles davon floss in die
zwischenzeitlichen Überarbeitungen seiner Hauptwerke ein, doch
einige seiner
Gedanken finden sich nur in diesem Band XI des in Berlin aufbewahrten
handschriftlichen Nachlasses. In den kulturell-paradiesischen Zeiten
des
Internets haben interessierte Zeitgenossen die Möglichkeit,
den Nachlass in
hochaufgelösten Abbildungen (http://www.schopenhauersource.org)
anzusehen, darunter auch den hier besprochenen Band XI des Nachlasses.
Doch dort
offenbart sich auch ein wesentlicher Grund für die vorliegende
Publikation,
denn die Autografen sind zum Einen schlechterdings kaum entzifferbar
und zum Anderen
auch noch voller Bezüge zum Werk, die ohne eine wirklich
intime Kenntnis des
Opus kaum erfasst werden können. Und da beginnt die kaum zu
ermessende Aufgabe
des zweiten Herausgebers Ernst Ziegler, der in einem editorischen
Nachwort in
die Problematik einführt und umfassende Hinweise zur Nutzung
von Text und
Anmerkungen gibt.
Neben einer Einleitung Volpis und dem bereits erwähnten
editorischen Nachwort
Zieglers erwarten den Leser - natürlich abgesehen von dem Text
- ein sehr
informativer Anmerkungsapparat, ein Personenregister sowie eine
Inhaltsübersicht
der von Schopenhauer angerissenen Themen.
Der interessierte Leser kennt seinen Schopenhauer aus dessen Schriften
und einer
Reihe biografischer oder werkbezogener Publikationen. Erstere zeigen
ihn auf
Distanz, getrennt durch Lektorat und die Abstraktion der Druckreife der
Texte, Zweitere
schildern ihn letztlich indirekt, wenngleich bei
Safranski
mustergültig und
werkbezogen intensiv. Doch es bleibt in beiden Fällen der
distante
Schopenhauer, frisiert und rasiert. Das vorliegende Buch hingegen
lässt den
Leser gewissermaßen über Schopenhauers Schultern
schauen, vermittelt eine Nähe
zu Schopenhauer, der publizistisch gesehen in Hausmantel und
Hausschuhen vor
seinem Manuskriptbuch sitzt. Hier ringt er gelegentlich um eine
Formulierung,
hier schimpft er, schwadroniert auch. Denn letztlich handelt es sich
nicht um
ein fertiges und zur Publikation vorgesehenes Manuskript, sondern um
ein mehr
oder weniger im Entstehen verbliebenes Werk, was allein schon ein Blick
auf eine
Seite des Autografen offenbart.
Was erwartet den Leser inhaltlich? Zwei Themen durchziehen
leitmotivisch des
Werk: Erstens Zorn, Hohn und Spott über "unfähige
Profeßoren",
die den Kant
nicht verstanden haben, von ihm, Schopenhauer, ganz zu
schweigen,
und zweitens insbesondere in den späteren Teilen seine
Kanonaden auf die
Sprachverhunzer, die durch Unkenntnis des Lateinischen nicht
verstünden, wie
eine hochentwickelte Sprache wie die deutsche korrekt verwendet werde.
Wenn er auf Manuskriptseite 20 wieder einmal über die "Philosophie-Profeßoren"
schimpft, tritt das klassische Schopenhauer-Trauma selbst offen zutage:
"Darum
haben Sie Kanten als ihnen unbequem zur Seite geschoben [...] Mit mir
haben sie
noch kürzern Prozeß gemacht, haben mich eben
ignorirt [...]" Und
weiter heißt es mit persönlicher Konsequenz: "Dagegen
haben sie die
Windbeutel verehrt und auf Befehl sogar den Hegel
in den Himmel
gehoben."
Wenige Seiten später nennt er sich den Caspar Hauser, der von
den
Philosophie-Professoren "so sorgfältig vom Lichte
des Tages abgesperrt
und so fest eingemauert war, daß die Welt keine Ahnung von
seinem Daseyn hatte.
Aber zuletzt ist auch Kaspar Hauser entsprungen [...]." [28,
2] Hegel
wird er zusammen mit Schelling und Fichte als die drei Sophisten
bezeichnen. Die
Philosophie-Professoren, die Gewerbsphilosophen, wie es anderer Stelle
heißt,
die in Wirklichkeit jüdische Mythologie durchdeklinierten und
den Katechismus
lehrten, aber keine Philosophie betrieben, womit er insbesondere den
[Heinrich]
Ritter von der traurigen Gestalt im Sinn hat. Doch es blitzt auch der
späte
Triumph hindurch: "Legor et legar! Man liest mich und man
wird mich
lesen!" kann er endlich in den "Senilia" mit sichtbarer
Genugtuung behaupten.
Ende 1957 beginnt er über Sprachverhunzer, über
Skribler zu lamentieren, und
ein Jahr später stellt er fest: "Wäre es
Wahnsinn; so wäre Hoffnung:
Aber Dummheit ist unheilbar." [110, 1]
Und schon vor 150 Jahren
sah Schopenhauer den
Genitiv schwinden (was uns wiederum hoffen lässt, d.
R.). Hier wünschte
sich der Leser gelegentlich mehr humorige Gelassenheit statt der
verschwörungsgeladenen
und stellenweise doch nervigen Besserwisserei. Schuld seien im
Übrigen die
fehlenden reinigenden Kräfte der lateinischen
Sprache, so
Schopenhauer.
Auch eine Fülle von Aphorismen erwartet den Leser. "Wer
auf die Welt
gekommen ist, sie ernstlich und in den wichtigsten Dingen zu belehren,
der kann
vom Glück sagen, wenn er mit heiler Haut davonkommt."
[6, 2] Oder: "Die
Welt ist eben die Hölle, und die Menschen sind einerseits die
gequälten Seelen
und andrerseits die Teufel darin." [15, 4] Oder dieser
treffende Satz: "Alles
Intellektuelle, (die Leistung, die Fähigkeit, das Verdienst)
verhält sich zum
Moralischen stets wie ein bloßes Bild zur Wirklichkeit."
[24, 2] Oder
zur Abwechslung etwas leichten Spott, denn 35 Jahre nach der
Erstveröffentlichung
von "Die Welt als Wille und Vorstellung" schrieb er: "Wenn
ich
eine Fliege klappe, so ist doch wohl klar,
daß ich nicht das Ding
an sich todt geschlagen habe, sondern bloß seine Erscheinung."
[50, 1]
Schopenhauers Argumentation gegen die Schulphilosophie in Deutschland
bedient
sich oft des Begriffs der jüdischen Mythologie, dessen sich
die Professoren an
Stelle der echten - z. B. seiner - Philosophie bedienten. Darin kann
man lange
Zeit eine an die Religion
im Allgemeinen gerichtete Kritik sehen, doch
dieser
Satz aus Manuskriptseite 135 macht aber doch stutzig: "Der
liebe Gott,
in seiner Weisheit voraussehend, daß sein
auserwähltes Volk in alle Winde
zerstreut werden würde, gab deßen Mitgliedern einen
specifischen Geruch, daran
er sie überall erkennen und herausfinden könne: den
foetor Judaicus."
Da jedoch "der liebe Gott" vermutlich kein Terminus
ist, hinter
dem sich bei Schopenhauer mehr als eine Metapher verborgen haben
dürfte, ist
der Sinn nicht sicher zu deuten. Hier muss man sich aber wundern
über einen
Aufklärer, der insbesondere gegen Heilsexklusivität
der Offenbarungsreligionen
ankämpfte, sich aber hier offensichtlich höchstselbst
zumindest deren
Sprachmuster bediente. Aber was können wir erwarten, wenn wir
ihm privatim in
seiner Wohnung am Frankfurter Mainufer über die Schultern
schauen?
Doch zur Versöhnung noch einmal ein seltenes Stück
Schopenhauer'scher leisen
Humors: Das "Gespräch von Anno 33":
A. Wißen Sie schon das Neueste?
B. Nein, was ist paßiert?
A. Die Welt ist erlöst!
B. Was sie sagen!
A. Ja, der liebe Gott hat Menschengestalt angenommen und sich in
Jerusalem
hinrichten laßen: dadurch ist nun die Welt erlöst
und der Teufel geprellt.
B. Ei, das ist ja ganz scharmant. [71, 3]
Fazit:
Es dürfte sich als eine gute Wahl des Verlages herausstellen,
insbesondere
einen der späten Nachlassbände zu edieren - und das
gleich in vorbildlicher
Art und Weise. Abbildungen der Autografen lassen erahnen, welche Arbeit
dahintersteckt. Doch dafür konnte man ja auch einen
ausgewiesenen Fachmann
verpflichten. Ein besonderes Kompliment erfolgt an Dr. Ernst Ziegler,
der dieses
Manuskript in eine lesbare Form brachte.
Alles in allem stellt das vorliegende Buch für einen Liebhaber
des im Lichte
der Öffentlichkeit allzu sehr mit Pessimismus etikettierten
Arthur Schopenhauer
eine wirkliche Bereicherung dar.
(Klaus Prinz; 04/2010)
Arthur
Schopenhauer: "Senilia. Gedanken im Alter"
Herausgegeben von Franco Volpi und Ernst Ziegler.
C.H. Beck, 2010. 352 Seiten.
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Weitere
Buchtipps:
Otto
A. Böhmer: "Schopenhauer oder Die Erfindung der
Altersweisheit"
Arthur Schopenhauer (1788-1860), unter den großen Philosophen
einer der
sprachgewaltigsten, kann als der eigentliche Erfinder der
Altersweisheit gelten.
Er hat seine Anhänger, und es werden immer mehr. Von ihm
lassen sich Einsichten
beziehen, die nicht unbedingt glücklich machen, dafür
jedoch beträchtliche
Gelassenheit vermitteln.
Was man bekommt, wenn man auf Schopenhauer als Lebensberater setzt,
davon
erzählt dieses Buch. Es zeigt, dass man sich seiner
Philosophie bedienen kann,
ohne zum Schopenhauerianer werden zu müssen. Wer Schopenhauer
liest, macht
nicht automatisch eine Ausbildung zum Menschenfeind durch, sondern wird
mit
Heiterkeit belohnt: "Der Heiterkeit, wann immer sie sich
einstellt,
sollen wir Tür und Tor öffnen: denn sie kommt nie zur
unrechten Zeit." (C.H.
Beck)
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Arthur Schopenhauer:
"Die hohe Kunst der Kränkung"
Ausgewählt von Michael Fleiter.
"Soll ich das etwa sein?" mag sich mancher Leser
verwundert
fragen, der Schopenhauers Ausführungen über den
Menschen liest. Noch vor
Darwin konstatiert er die Herkunft
des Menschen vom Affen - und
schlussfolgert,
dass es sich bei den Tierkreisen in Wahrheit um Familienwappen handele.
Auch zu
Themen wie Frauen, Nationalstolz und Demokratie hat der Philosoph
einiges Überraschendes
anzumerken. Er nimmt dabei kein Blatt vor den Mund und treibt damalige
wie
heutige Zeitgenossen mit philosophischer Florettkunst in die Enge,
nicht ohne
den einen oder anderen Sauhieb zu verteilen. (Insel)
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