Peter Miller: "Die Intelligenz des Schwarms"
Was wir von Tieren für unser Leben in einer komplexen Welt lernen können
Was
wir von Ameisen lernen können
Ausgehend vom Zeitpunkt der Entstehung dieser Rezension ist es nur
wenige Wochen
her, dass bei der "Love-Parade" im nordrhein-westfälischen
Duisburg
21 Menschen aufgrund einer Massenpanik den Tod fanden. Nun ist Panik
ein bei
Massenveranstaltungen häufig zu beobachtendes
Phänomen, leider oft mit fatalen
Folgen. Dieses irrational anmutende Verhalten von großen
Menschenmengen ist ein
zentrales Thema des vorliegenden Buches. Ein ganzes Kapitel, das
fünfte und
letzte des Bandes, bezeichnenderweise überschrieben mit "Wenn
Schwärme
Amok laufen", ist diesem Phänomen gewidmet. Der "National
Geographic"-Autor Peter Miller zeichnet hier unter Anderem
den Verlauf
der Massenpanik vor der "PhilSports-Arena" in Manila vom 4. Februar
2006 nach, bei welcher 74 Menschen totgetrampelt wurden. Des Weiteren
gibt er
uns einen detaillierten Bericht der kollektiven Panik von Mekka-Pilgern
vom 12.
Januar desselben Jahres; eine Panik, die immerhin 363 Menschen das
Leben
kostete.
Was läuft eigentlich falsch, welche Steuerungsmechanismen
versagen, wenn ein
Schwarm bzw. eine Menschenmenge Amok läuft? Peter Miller: "Wenn
die
Dichte die Kapazitätsgrenze übersteigt, und sei es
auch nur für einen kurzen
Moment, dann ändert sich die Dynamik, die Menschen verlieren
die Kontrolle, und
bewusstes Handeln wird durch die Bewegungen und Reaktionen der Gruppe
unmöglich
gemacht. Die Menge kann sich nur noch eingeschränkt selbst
organisieren und
verwandelt sich in eine hirnlose Masse, die von physischen
Kräften und Angst
beherrscht wird. Statt das Problem mithilfe einfacher Daumenregeln
herunterzubrechen und auf zahllose Individuen zu verteilen, wie dies
die Ameisen
tun, springt die Masse in einen chaotischen Zustand ..."
Ameisen
als
Lehrmeister für Organisatoren und Sicherheitskräfte
von Massenveranstaltungen?
Können wir tatsächlich von Ameisen lernen, durch
intensive Forschungen von der
Intelligenz des Schwarms profitieren? Ja, wenn das so einfach
wäre. Gewiss
haben Insekten und andere schwarmbildende Tiere wie beispielsweise
Vögel oder
Fische im Verlauf der Evolution gelernt, eine nahezu perfekte
Kommunikation
innerhalb ihres Schwarms zu entwickeln. Das Gewusel in einem
Ameisenhaufen mag
auf den menschlichen Betrachter chaotisch wirken, und doch scheint dort
alles
perfekt durchorganisiert; für die Masse relevante Signale oder
Veränderungen
werden blitzschnell erkannt und ebenso rasch weitergegeben. Dabei gilt
als
Faustregel: Der
Schwarm als Ganzes ist intelligent, die einzelnen Individuen
sind relativ
dumm. Es scheinen hier also genau die umgekehrten Verhältnisse
vorzuliegen wie
beim Menschen. Eine ziemlich anthropomorphe Betrachtungsweise. Und
genau das ist
der Schwachpunkt dieses Buches. Denn dieses erstaunliche Verhalten
einiger
Insektenvölker auf den Menschen zu übertragen, oder
auch nur diesbezügliche
Vergleiche anzustellen, erscheint mir doch sehr weit hergeholt, eine
unzulässige
anthropomorphe Betrachtungsweise eben. Das ganze Buch, so interessant
es im
Einzelnen auch ist, krankt an diesen unseligen Vergleichen. Immer
wieder stößt
man auf Sätze wie diese: "Wie kann es sein, dass
Ameisen, Bienen oder
Termiten mehr wissen als wir? Wenn Ameisen so intelligent sind, warum
fliegen
sie dann nicht in Boeings durch die Luft? Wie wir neue
Herausforderungen am
besten meistern, das können uns die Experten verraten - aber
nicht die Experten
aus dem Kabelfernsehen, sondern die im Gras, in den Bäumen,
den Seen und Wäldern."
Schließlich versteigt sich unser Autor zu der abstrusen
Feststellung: "Wenn
das Dame-Spiel für das Überleben der Ameisen genauso
wichtig wäre wie die
Futtersuche, dann wären sie wahrscheinlich ein flexibler und
gefährlicher
Gegner."
Nach einem Vorwort Don Tapscotts, dem Autor von "Wikinomics",
und einer kurzen Einführung Peter Millers befasst sich das
erste Kapitel zunächst
mit den Ameisen, präziser: mit ihrer Selbstorganisation, die
laut Peter Miller
nach drei grundlegenden Mechanismen abläuft: einer
dezentralisierten Kontrolle,
einer verteilten Problemlösung sowie vielfacher Interaktion.
Fazit: "Die
Selbstorganisation bietet einem Ameisenstaat also eine narrensichere
Methode, um
Tag für Tag mit einer unsicheren Umwelt umzugehen.
Wäre es nicht schön, wenn
wir das auch könnten?" Nachdem wir also zu Anfang
des Kapitels einige
bemerkenswerte Details aus dem Ameisenleben kennenlernen durften,
überträgt
unser Autor deren Verhaltensstrategie auf Probleme des menschlichen
Zusammenlebens und langweilt seine Leser durch die für
us-amerikanische Autoren
so typischen, auf zig Seiten ausgewalzten Fallbeispiele. Die beginnen
dann so: "Charles
Harper blickte aus dem Fenster seines Büros hinaus auf die
weite texanische
Ebene." Oder so: "Die Menschen, die in die Aula des
alten
Schulgebäudes von Bradford in Vermont strömten,
wirkten freundlich."
Man kennt das ja mittlerweile zur Genüge.
Das zweite Kapitel, das den Bienen gewidmet ist, läuft nach
dem gleichen Schema
ab. Nicht uninteressant, doch bisweilen recht langatmig. Gleiches gilt
für
Kapitel drei, das sich mit den imponierenden Bauten und dem Verhalten
von
Termiten beschäftigt. In einem seiner zahlreichen
Fallbeispiele versucht der
Autor, den Ursachen des Stromausfalls auf den Grund zu kommen, der im
Jahre 2003
große Teile des nordamerikanischen Stromnetzes lahmgelegt
hatte, um mit der
Frage zu schließen: "Was hat das mit Ameisen,
Bienen und anderen
Insekten zu tun? Was sollten wir schon von diesen winzigen Lebewesen
über den
Erhalt von Stromnetzen lernen können?" Millers
Antwort lautet, wie Sie
sicher bereits erraten haben: "Sehr viel."
"Das Geheimnis der Herden und Horden" wird im vierten Kapitel
gelüftet.
Wir verlassen die Welt der Gliedertiere und wenden uns den
Wirbeltieren,
speziell den Vögeln
und Fischen
zu. Konnte der Autor bei den
Insekten drei
Prinzipien des intelligenten Schwarms konstatieren, als da
wären: die
Selbstorganisation, die Wissensvielfalt sowie die indirekte
Zusammenarbeit, so
kommt hier bei den Wirbeltieren noch ein viertes Prinzip hinzu,
nämlich
Anpassung durch Nachahmung. Peter Miller wirft in diesem Kapitel auch
einen
Blick in die Zukunft und spekuliert darüber, inwieweit Roboter
es lernen könnten,
sich - wie die Ameisen - selbst als Team zu organisieren, um dann
gemeinschaftlich komplizierte Aufgaben zu lösen.
Soweit zum Inhalt der ersten vier Kapitel. Und damit sind wir wieder
bei unserem
Ausgangspunkt, dem 5. Kapitel "Heuschrecken - Wenn Schwärme
Amok laufen".
Ja, auch die in diesem Buch oft und gern beschworene Intelligenz ist
nicht
gefeit gegen Irrtümer. Am Beispiel der Heuschrecken versucht
Peter Miller das
aufzuzeigen. Diese jedoch mit Menschenmassen zu vergleichen, scheint
mir arg an
den Haaren herbeigezogen. Das Interessante und Lesenswerte an diesem
Buch sind für
mich die oft erstaunlichen Verhaltensweisen einiger schwarmbildender
Tiere.
Lehren aus einem solchen Verhalten zu ziehen und sie für uns
nutzbar zu machen,
halte ich jedoch eher für problematisch.
(Werner Fletcher; 09/2010)
Peter
Miller: "Die Intelligenz des
Schwarms.
Was wir von Tieren für unser Leben in einer komplexen Welt
lernen können"
(Originaltitel "The Smart Swarm. How Understanding Flocks, Schools, and
Colonies Can Make Us Bet ")
Übersetzt von Jürgen Neubauer.
Campus Verlag, 2010. 272 Seiten.
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Noch
ein Buchtipp:
Len
Fisher: "Schwarmintelligenz. Wie einfache Regeln
Großes
möglich
machen"
Eine Ameise ist dumm, tausend Ameisen sind genial.
Was hat das Schwarmverhalten von Tieren mit unserem
Briefträger oder sozialen
Netzwerken zu tun? Len Fisher erklärt anschaulich wie kein
Anderer, wo wir die
Intelligenz der Vielen im Alltag finden und wie sie funktioniert.
Fisch- oder Vogelschwärme bewegen sich in
verblüffenden Formationen. Jedes
Tier hat seinen Platz, gelenkt durch unsichtbare
Gesetzmäßigkeiten. Bienenschwärme
peilen scheinbar wie von selbst die pollenreichste Blumenwiese an.
Ameisen
arbeiten nach so außerordentlich differenzierten Strukturen,
dass Forscher die
Ameisenkolonie mit einem Superhirn vergleichen. Unsere Begeisterung
für die Schönheit
komplexer Systeme in der Natur kommt nicht von ungefähr, sagt
Len Fisher: Wir
bewundern sie, weil wir uns selbst nach den gleichen Prinzipien
organisieren.
Fisher durchleuchtet den menschlichen Alltag und findet
Schwarmintelligenz überall:
bei unserer Suche nach dem besten Restaurant, dem
Reißverschlussprinzip beim
Einfädeln in den Verkehr und bei strategischen Entscheidungen
von
Kurierfahrern, die erkannt haben, dass dauerndes Linksabbiegen Zeit und
Geld
kostet. Wie kein Anderer versteht er es, naturwissenschaftliche Gesetze
lebensnah zu vermitteln und zu zeigen, wie wir sie im Alltag nutzen
können. (Eichborn)
Buch
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