Andrea
Camilleri: "Die Frau aus dem
Meer"
Ein
altes Märchen hätte er sich neu erzählen
wollen, berichtet der italienische Schriftsteller Andrea Camilleri im
Nachwort zu dem bei Kindler erschienenen Roman "Die Frau aus dem Meer".
Jene Geschichte von dem Bauern, der sich eine Sirene zur Frau nahm,
hörte er schon als kleiner Junge von einem Bauern namens
Minicu; dieser war "der fantasievollste unter den Bauern, die
auf dem Land meines Großvaters arbeiteten".
Von diesem Minicu hat Camilleri auch gelernt, "die
zauberischen Dinge zu sehen", Dinge, für die man die
Augen schließen muss, um sie zu erkennen. Nun setzt der
greise Camilleri diese Tradition fort und lehrt seine Leser in einem
wunderbaren und poetischen Roman die Zwischentöne und
Transzendenzen eines Lebens an und mit dem Meer.
Er erzählt die Geschichte von Gnazio Maniscu, der, nachdem
alle seine Verwandten gestorben sind, in die USA geht und in New York
als Maurer arbeitet. Als er nach einem Arbeitsunfall von der
Versicherung einen Koffer voller Dollars erhält, kehrt er,
fünfundvierzigjährig, 1895 nach Vigata
zurück, von wo er als junger Kerl ein Vierteljahrhundert zuvor
aufgebrochen war. Immer allerdings war ihm klar gewesen, dass er einmal
zurückkehren, sich in der Heimat ein Frau nehmen und Kinder
bekommen würde.
Doch zunächst kauft er sich ein Stück Land direkt am
Meer. Eine Art Landzunge, von der die Leute sagen, dass sie auf dem
Meer schwimme. Er tut es, obwohl er vor dem Meer große Angst
hat und niemals auch nur ein Fuß hineingestreckt hat. Gnazio
ist ein fleißiger Mann. Er rodet das Land, kultiviert es,
sät und erntet, schafft sich Nutztiere an, und er baut ein
Haus. Er baut es in mehreren Etappen, nach einem eigenen, offenbar gut
durchdachten Stil. Camilleri braucht viele Seiten, um die einzelnen
Teile des Hauses genau zu beschreiben, so fasziniert ist er selbst von
seiner literarischen Schöpfung. Später, die Handlung
ist schon weit vorangeschritten, wird er einen us-amerikanischen in
Hamburg lebenden Intellektuellen mit einer Kamera vorbeikommen lassen,
der Gnazios Gebäude in allen Einzelheiten fotografieren und
ihm in weiterer Folge aus Hamburg schreiben wird, dass dort ein
Architekt namens Gropius von seiner Baukunst sehr begeistert war und
sich inspirieren ließ.
Als Gnazio alles fertig hat, sieht er die Zeit gekommen, sich eine Frau
zu nehmen. Unter der Vermittlung der Kräuterfrau Donna Pina
wird er nach langen Vorbereitungen und mit uralten Zeremonien mit einer
Frau namens Maruzza Musumeci vermählt, für die er
eine unbändige Leidenschaft empfindet. Nachdem in langen
Verhandlungen abgeklärt ist, dass Gnazio Maruzza immer ihren
Willen lassen wird, insbesondere dann, wenn sie das Bedürfnis
spürt, nackt ins Meer gehen zu müssen, erwidert sie
über viele Jahre und viele Kinder hinweg diese Leidenschaft.
Gnazio baut für seine Frau zwei große Zisternen, die
er mit Meerwasser füllen lässt, wenn sie
spürt, wieder zur Sirene werden zu müssen. Sie singt
wunderschöne Lieder mit einer großen Muschel und
spricht griechische Verse aus den Gesängen der "Odyssee".
Seltsame Dinge passieren, doch Gnazio ängstigen sie nicht
mehr. Er wird langsam alt; Camilleri verfolgt am Ende des Buches in
großen Schritten die Familiengeschichte; ein Sohn wird ein
berühmter Sternenforscher, und auch seine anderen Kinder- und
Kinderkinder sind gesegnet.
Das Buch verzaubert seinen Leser sofort. Er wird gepackt und
hineingezogen in jene märchenhafte Welt, in dem viel
Archaisches lebendig geblieben ist. Er ist mit jeder Seite mehr
fasziniert von jener Sehnsucht nach einer anderen Welt, die zwischen
den Zeilen dieses Buches immer durchschimmert. Und er wird
eingehüllt von der Schilderung einer Liebe, wie sie
schöner und leidenschaftlicher nicht sein könnte,
obwohl sie einfach bleibt bis zum gnädigen Ende.
Ein Märchen, erfunden von einem Schriftsteller, der damit
eines seiner besten Bücher geschrieben hat, angesiedelt in
einer längst vergangenen Welt, mit fantasievoll und sensibel
beschriebenen Charakteren.
Der Zauber dieses Romans wirkt lange nach.
(Winfried Stanzick; 07/2011)
Andrea
Camilleri: "Die Frau aus dem
Meer"
Übersetzt von Moshe Kahn.
Kindler, 2011. ca. 160 Seiten.
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