Thomas Glavinic: "Carl Haffners Liebe zum Unentschieden"
"Die Sonne ist vom Himmel gefallen."
Mit dieser Schlagzeile wartet die Wiener Presse im Jahr 1910 in einer
ihrer Gazetten auf und deutet damit eine sich anbahnende Sensation in der
Schachwelt an. Aufsehenerregender konnte das stattfindende Ereignis nicht sein.
Leute, die vom Schach kaum mehr als die Gangart der Figuren wussten, es gar
für ein Welträtsel hielten, prügeln sich um Zuschauerplätze am
Austragungsort. Was treibt sie, dieser "Leidenschaft magerer Kanzleiräte und
schlitzohriger Juden", diesem eher unspektakulären Sport, "langweiliger
noch als eine Meisterschaft der Briefmarkensammler oder Spitzendeckenhäkler",
beizuwohnen?
Lokalmatador Carl Haffner ist im Begriff den bis dato seit sechzehn
Jahren ungeschlagenen Weltmeister, Gelehrten, Mathematiker und Philosophen
Emanuel
Lasker in die Knie zu zwingen. Fünf Spiele von den angesetzten
zehn sind
bereits ausgetragen. Viermal Remis hat sich Haffner erkämpft,
einen durch ihn
"bevorzugten" Spielstand. In einer Partie zwingt er den Deutschen
sogar in die Knie und gewinnt. Der in greifbare Nähe
gerückte Weltmeistertitel
ist dabei zwar eine erfreuliche Nebenperspektive, aber den Menschen
geht es um
etwas Anderes. "um den Wettstreit, um Sieg oder Niederlage,
um Aufregung
und - um eine Antwort. Die Art der Waffen war nebensächlich.
Man wollte ohne
eigenes Risiko einen Vorgang beobachten, dem man selbst im
Alltäglichen ganz
unfreiwillig unterworfen war. Einem Wettstreit, dessen Regeln man zu
kennen
glaubte, lagen klare Muster zugrunde, ganz im Unterschied zu den
Konflikten des
Lebens. Im Leben wusste man nur selten, ob man ein Spiel gewonnen
hatte. Und man
wusste nicht, wer hinter den Spielregeln steckte. Das war das
Schlimmste."
Thomas Glavinic schildert in seinem Debütroman aus dem Jahr
1998 diesen ganz
realen (Über-)Lebenskampf auf mehreren Ebenen. Die
titelgebende Figur, ihre
sportliche Auseinandersetzung mit dem deutschen Ausnahmespieler und vor
allem
ihr obsessiver, ja tragischer Werdegang, bildet dabei das
Rahmengerüst. Geist
und Seele dem Schachspiel verschrieben, gibt sich Carl Haffner diesem
blind,
bedingungslos, ausschließlich und fanatisch hin und geht
daran letztendlich jämmerlich
zugrunde. Um diese Handlung herum taucht Thomas Glavinic in diverse
Lebenslinien
des Haffnerschen Stammbaums ein: Der Urgroßvater, ein
wohlhabender Tuchhändler
aus Königsberg, der mittelmäßige, als
Komödienschreiber jedoch erfolgreiche
Wiener Großvater sowie seine auf der untersten Sprosse der
Sozialleiter
stehenden Eltern sind dabei mehr als Nebenkriegsschauplätze.
Der Vater - ein
Trinker - schlägt sich als Stehgeiger in Wiener Beiseln und
Heurigen durch.
Mutter Maria verdient mit Näharbeiten und später,
nachdem sie der Mann wegen
einer jüngeren Frau verlässt, als Toilettenfrau den
Lebensunterhalt. Zu Lina
wiederum, seiner Halbschwester, hat Carl eine besondere, ja beinahe
magische Beziehung.
"Im Spiel der Meister, sagt Lasker, liegt die Wahrheit, auf
dem Brett kann man nichts verbergen: Man ist als Mensch nackt." Thomas
Glavinic
weiß sehr wohl um dieses Offenliegen. Brachte er es doch anno
1987 selbst bis
zur Nummer 2 der österreichischen Schachrangliste seiner
Altersklasse. Als
Schriftsteller ist er gleichsam entblößend.
Entstanden ist ein mitreißendes,
bewegendes und gut lesbares psychologisches Gedankenexperiment, das
sich in
seinem Grundgerüst am wahren historischen Ereignis orientiert.
Auch die Person
des Herausforderers Carl Haffner existierte. Sie wurde durch den
österreichischen
Autor mit der Biografie des 1874 geborenen Karl Schlechters
ausgestattet, der
tatsächlich 1910 gegen Emanuel Lasker antrat. Allerdings ist
anzunehmen, dass
auch jede Menge persönliche Züge in die
Erzählung eingeflossen sind. Thomas
Glavinic stand schließlich nah an der Materie.
"Ein Dichter schreibt sein Buch nicht einfach, er
fügt darin eins zum
anderen. Und ein großer Schachmeister spielt seine Partien
nicht. Er baut sie.
(...) [und] verwendet für jeden Zug so viel Kraft und
Phantasie wie ein Dichter
für jedes Wort jedes Satzes", schreibt der Autor. In
seinem Roman ist
ihm Gleiches gelungen. Er vereint beide Genres kongenial miteinander.
Quintessenz: "Im Schach ist es wie im Leben: Man darf nur
angreifen,
wenn der Gegner einem zuvor die Waffen dazu in die Hand
gedrückt hat."
Das allerdings vergaß Carl Haffner alias Karl
Schlechter zu berücksichtigen.
(Heike Geilen; 03/2011)
Thomas
Glavinic: "Carl Haffners Liebe zum Unentschieden"
dtv, 2006. ca. 208 Seiten.
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Ein weiteres Buch des Autors:
"Unterwegs im Namen des Herrn"
Thomas Glavinic auf dem Balkan, auf einer Pilgerfahrt, deren Ziel die
Erleuchtung ist. Doch die bleibt aus. Zermürbt von den endlosen Gebeten seiner
Mitreisenden, versucht er zu fliehen. Die Rettung geht schief, denn jetzt kommt
er vom Himmel in die Hölle. Mit Ingo, einem berühmten Fotografen, der das
Aussehen eines Ganoven hat, macht sich Glavinic auf den Weg ins bosnische
Medjugorje. 1981 erschien dort drei Hirtenkindern die Jungfrau Maria. Seitdem
besuchen Tausende von Gläubigen den abgelegenen Ort. Sie fasten, schlafen in
kargen Betten und stehen mitten in der Nacht auf, um den Erscheinungsberg zu
besteigen. Glavinic will es mit eigenen Augen sehen. Die vierzehnstündige
Busfahrt, mit den kauzigen Mitreisenden und dem kommandierenden Reiseleiter, ist
schlimm genug, doch in Medjugorje landen sie in einer perfekten
Abfertigungsmaschinerie für gläubige Touristen. Zwei Tage später quält
Glavinic eine schlimme Angina, und Ingo weigert sich, auch nur eine Minute länger
zu bleiben. Kurz vor dem Nervenzusammenbruch taucht als Retter Glavinics Vater
auf und fährt die beiden nach Split, wo sie von lokalen Mafiagrößen in einer
prunkvollen Villa empfangen werden. Und schon bald wünschen die beiden, sie wären
bei den Predigern geblieben.
Glavinic ist böse - vor allem sich selbst gegenüber, das hat er mit seinem
brillanten Roman "Das
bin doch ich" bewiesen. Doch dieses Meisterstück der Selbstdemontage
ist noch zu steigern: wenn die Verzweiflung zur Erleuchtung wird. (Hanser)
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