Thomas Harlan: "Veit"
"Mein
Vater wollte das alles nicht wissen."
Thomas Harlan, der sich in seinen großartigen, jedoch medial
unterrepräsentierten Büchern immer mit der Last der
Schuld des Vaters und der blutigen, unverzeihlichen Grausamkeit der
Zeit des Nationalsozialismus des Dritten Reiches beschäftigt
hat, widmet sich in seinem letzten Buch, vollendet nur kurze Zeit vor
seinem Tod im Oktober 2010, nach "Rosa", "Heldenfriedhof" und den
Erzählungen in "Die Stadt Ys", seinen Gedanken in den letzten
drei Tagen im Leben seines Vaters auf Capri.
Die betonschwere Schuld, der Sohn des Regisseurs des Propagandafilms
"Jud Süß" zu sein, der Sohn von Goebbels' Starregisseur
und Freundes zu sein, der Sohn eines nach dem Zweiten Weltkrieg
angeklagten, aber in allen Punkten vom Richter Dr. Walter Tyrolf, der
noch 1943 NSDAP-Mitglied und Richter am Hamburger Sondergericht war,
freigesprochenen Schuldigen zu sein, hat den Autor sein ganzes Leben
lang geplagt und geprägt.
"Ich glaube, ich habe dich verstanden, ich habe deine
Kämpfe verstanden, auch die Kämpfe gegen mich, so
scheint es mir. Als mein Vater das sagte, weinte er. Ich weiß
nicht, ob er weinte. Seine Augen waren feucht ... Mein Vater bewegte
sich nicht. Fünfunddreißig Jahre lang hatte er zu
mir ein Verhältnis gehabt, das man zu Sachen hat, an die es
sich zu gewöhnen lohnt."
So pendelt dieser Text zwischen den Empfindungen des jungen Thomas
Harlan hin und her. Der Unvereinbarkeit von Liebe zum Vater per se und
der Liebe zum Vater in Gestalt von Veit Harlan.
"Uns Kindern hattest Du vor dem Prozess gesagt, dass Du die
Schande einer Gefängnisstrafe nicht ertragen könntest
und Dir das Leben nehmen würdest. Ich war glücklich,
dass Du am Leben warst. Ich liebte Dich so sehr, dass ich wohl
glücklicher war als Du selbst. Die Hetze war gesegnet worden."
Wunderbar irritierende Sätze, die teilweise während
des Satzes die Perspektive wechseln, so, als müsste man sich,
um etwas besser erklären zu können, loslösen
vom verletzten Ich, wie aus mehreren Metern Höhe beleuchten,
nur um nach der Wiederkehr in die Ich-Perspektive dort anzusetzen, wo
man vorher ausgesetzt hatte.
So versucht es Thomas Harlan unter Anderem damit, die Schuld des sich
keiner Schuld bewussten Vaters auf sich zu nehmen, damit Abbitte
geleistet wird, damit die Schuld nicht weiterhin dem
lächerlichen Richterspruch entsprechend unschuldig bleibt.
"Vergiss nicht, Vater, ich bin bereit, Deine Schuld auf mich
zu nehmen. Vergiss nicht, ich wusste bis heute nicht, dass ich bereit
bin, in Deiner Schuld bin, dass Du sie einfordern kannst, dass ich sie
begleiche, auch wenn Du nichts forderst, vergiss nicht, dass ich Dein
Sohn sein will, dass es mir weh tut zu sehen, wie Du Dich
quälst, vergiss nicht, quäle Dich nicht. Ich habe den
Film gemacht ..."
Doch auch die Übertragung der Schuld des Vaters auf sich
selbst verhilft dem Sohn nicht zur notwendigen Ruhe. Thomas Harlan
erinnert sich an seine Kindertage, seine Geschwister, seine Jahre als
Jugendlicher und als ungewollt privilegierter, weil Sohn eines
berühmten, wenn auch berüchtigten Mannes, als junger
Autor, Drehbuchschreiber und Mensch.
Immer wieder kehren seine Gedanken zu den Drehorten des
schändlichsten, antisemitischsten Spielfilms der NS-Zeit, "Jud
Süß", zurück, zu den Proben, als
Blaurock-Kallmeyer den Tod im Gas und die Vernichtungsmaschinerie per
se probte. Auch Blaurock-Kallmeyer hatte nach dem Zweiten Weltkrieg nur
geringe Probleme mit seiner Tätigkeit im Dienste der
Nazi-Propaganda, diente er doch in den 1960er-Jahren den Vereinigten
Nationen als Agrarexperte auf Kuba. Auch er wurde nie zur Verantwortung
gezogen und starb mit einer außerordentlichen Pension im
Ruhestand.
Während der Autor über seinen Vater schreibt,
schreibt er gleichzeitig über alle Kinder von
Nazi-Vätern, von Mitläufern, von kleinen
Opportunisten, wie auch von bewussten Tätern. Dadurch ist
"Veit" symbolisch für die Qual aller Kinder, die dieses
Schicksal mit ihm auf die eine oder andere Art teilen.
Über allen Erinnerungen, Anklagen, inneren Kämpfen
und der von der ersten bis zur letzten Seite brodelnden Hassliebe zum
Vater steht Thomas Harlans Prosa. Wie in Stein gemeißelt,
messerscharf und Wort für Wort präzise und stark, ist
sie das, was dieses Buch in die Sphäre eines großen
literarischen Ereignisses hebt. Was dieses Buch in eine literarische
Flughöhe hebt, auf der sich nur ganz wenige Autoren bewegen.
Ein sehr informativer Anhang mit Details zu den verschiedenen Personen,
einem Essay (Entstehung, Wirkung und Rechtfertigungsversuche) zum Film
"Jud Süß" und einer Zeittabelle der Leben von Thomas
und Veit Harlan runden dieses wichtige Buch in schöner,
schlichter Aufmachung von Rowohlt ab. Befriedigend ist auch, dass
Rowohlt zeitgleich zusätzlich zur Erstausgabe dieses Buches
die früheren Werke von Thomas Harlan in Taschenbuchausgaben
herausgibt. Es bleibt zu hoffen, dass das wunderbare und immens
wichtige Werk dieses Autors ein wenig aus dem Reich der Nichtbeachtung
hervorgeholt wird.
(Roland Freisitzer; 07/2011)
Thomas
Harlan: "Veit"
Rowohlt, 2011. 155 Seiten.
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Hörbuchausgabe:
Strunz! Enterprises, 2011.
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Thomas
Harlan wurde am 19.
Februar 1929 als Sohn der Schauspielerin Hilde Körber und
von Veit Harlan geboren. Er hat mehrere Filme gedreht, darunter "Torre
Bela" (1977) und "Wundkanal" (1984), außerdem hat er
Theaterstücke und mehrere Bücher geschrieben. Am 16.
Oktober
2010 ist er in einem Sanatorium in der Nähe von Berchtesgaden
gestorben; nur Tage zuvor hatte er die Arbeit an
"Veit" beendet.
Weitere Bücher des Autors (Auswahl):
"Hitler war meine Mitgift. Ein Gespräch mit Jean-Pierre
Stephan"
Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Band 1.
"Ich bin der Sohn meiner Eltern. Das ist eine Katastrophe. Die
hat mich bestimmt."
Thomas Harlan hat nie Geschichte geschrieben - er hat sie
erlebt und gelebt. Seine Kindheit im Dritten Reich, die Jahre in
Frankreich und in Polen, seine Freundschaft mit Klaus
Kinski, die politischen und künstlerischen
Auseinandersetzungen mit der Bundesrepublik der Nachkriegszeit: Mit
schonungsloser Offenheit, auch sich selbst gegenüber,
erzählt er Jean-Pierre Stephan von seinem
ungewöhnlichen Leben: eine Biografie als präzise,
umfangreiche und schockierende Spiegelung der deutschen
Nachkriegsgeschichte.
Mit einem Vorwort und Erläuterungen von Jean-Pierre Stephan.
(rororo)
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"Rosa"
Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Band 2.
Eine Lichtung im Walde bei Chelmno in Polen. Aus der schneeverwehten
Ebene wölbt sich das Dach eines Erdhauses, ein Pferd ohne
Schwanz ist an den rauchenden, klapprigen Schornstein gebunden, der aus
dem Boden ragt. In der Höhle haust Rosa. Sie ist die ehemalige
Verlobte von Franz Maderholz, einem der Handlanger der ersten
großen Judenvernichtungsaktion im Zweiten Weltkrieg. Die
Asche seiner Opfer füllt den Boden der Lichtung, in der nun
Rosas Heimstatt ist. Seltsame Pflanzen wuchern über diesen
Boden, verwachsene Tiere bewohnen den Wald.
Eine Gruppe von Filmemachern hat von den Gerüchten
über die damaligen Ereignisse erfahren. Die Spuren
führen ins polnisch-ukrainische Grenzgebiet, in die
Karstgebirge vor Triest, eine Lungenheilanstalt in den Alpen und ins
Berlin der Nazizeit. (rororo)
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"Heldenfriedhof"
Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Band 3.
Thomas Harlans Roman ist ein Kosmos aus unzähligen
historischen wie fiktiven Personen und spielt an so verschiedenen Orten
wie Triest,
Mozambique und der Ramsau, zwischen 1942 und 2000.
Schlüsselfigur ist Enrico Cosulich, der als Sohn einer im KZ
San Sabba ermordeten Frau mit einem rätselhaften
Massenselbstmord in Verbindung steht. Realität und Fiktion
verbinden sich zu einer Schleife, die sich bis zum Ende des Romans
nicht löst.
Ein Roman über die Täter: das Nachglühen
einer vergessenen Militäreinheit in Norditalien, der
ungehinderte Aufstieg der Mörder nach dem Krieg - und ihre
gewissenlose Flucht ins Schweigen. (rororo)
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"Die
Stadt Ys und andere Geschichten vom ewigen Leben"
Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Band 4.
Von Geisterstädten, doppelten Leben, vergeblichen Lieben.
1937 trifft Stalin
eine Entscheidung, die es den Feinden schwermachen soll, Wotkinsk,
Geburtsort Tschaikowskis und Mittelpunkt der russischen
Rüstungsindustrie, zu zerstören. Er lässt
die Stadt ein zweites Mal erbauen, 52 Kilometer entfernt von der
ersten, mit zweitem Schwanensee, mitsamt zweitem Geburtshaus
Tschaikowskis, zweitem Klavier, Bett und zweiten
Originalpartituren - nicht aber den riesigen Munitionsfabriken, die nur
unter Wotkinsk I liegen. Wotkinsk I war fortan auf keiner Karte mehr zu
finden. So ist eine der vielen, ineinander verwobenen Geschichten aus
"Die Stadt Ys". Sie handeln von Apparatschiks, Heroen, Idioten,
Künstlern, Städten und Grenzen. Sie spielen in
Kasachstan, im Ural, an der Kurischen Nehrung, in Vietnam und an der
Grenze zum Iran. In diesem literarischen Raum ersteht eine Welt, die
seit 1989 versunken ist, aber unauslöschlich im historischen
Gedächtnis erhalten bleiben wird: die Welt des sowjetischen
Reiches und seiner Satellitenstaaten. (rororo)
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