Karl Ove Knausgård: "Sterben"
"Mitten
in diesem Seelensturm wurde es Frühling ..."
Karl Ove Knausgårds fesselnder Roman "Sterben" ist der erste
Teil eines Romanzyklus, der aus sechs Teilen bestehen soll. Der zweite
Teil, "Lieben", wird bereits im Frühjahr 2012 erscheinen.
Tiefgehend und schonungslos lässt Karl Ove Knausgård
seinem Erzähldrang sichtlich freien Lauf und gibt ihm
genügend Raum um zu gedeihen, während er in Romanform
mit seinem Vater, dessen Tod der Ausgangspunkt für "Sterben"
ist, abrechnet.
"Für das
Herz ist das Leben einfach: es
schlägt, solange es kann. Dann stoppt es. Früher oder
später, an dem einen oder anderen Tag, hört seine
stampfende Bewegung ganz von alleine auf, und das Blut fließt
zum niedrigsten Punkt des Körpers, wo es sich in einer kleinen
Lache sammelt, von außen sichtbar als dunkle und feuchte
Fläche unter der beständig weißer werdenden
Haut, während die Temperatur sinkt, die Glieder erstarren und
die Gedärme sich entleeren."
Schon die erste Seiten dieses Romans, auf denen der Erzähler
sich einem kleinem philosophischen Diskurs über die
Leichtigkeit des Herz-Seins, im Vergleich zur Schwierigkeit des
Mensch-Seins widmet, ziehen den Leser in den Bann. Während man
noch darüber nachdenkt, dass es wirklich so ist, dass die
Toten nie im obersten Stockwerk eines Krankhauses aufbewahrt werden,
dass die Wege der Toten immer in die Tiefe, also ins Erdgeschoss oder
in den Keller führen, ist man schon von diesen Betrachtungen
weggezerrt und in der Pubertät des Autors angekommen.
Während Karl Ove Knausgård mit diesem Roman sein
offensichtlich problematisches Verhältnis zum Vater
aufarbeitet und hier posthum die Rechnung stellt, ist es auch ein
ebenso schonungsloses Abrechnen mit sich selbst. Selbstzweifelnd und
schonungslos seziert er die eigene Unzulänglichkeit, die ihn
schon mehr als holprig durch die Pubertät bringt. Es folgen
grandiose Szenen des Erwachsenwerdens, vielleicht einige der besten
Seiten, die je über das Erwachsenwerden erzählt
wurden, die gewollte Einsamkeit im Dickicht der Menge, das
"Für-Sich-Sein", die Notwendigkeit, nicht im Strom
mitzuschwimmen, um daran zu wachsen. Eine Eigenschaft, die dem
Erzähler im Erwachsenenalter bleiben soll und die mitunter zur
Trennung von seiner ersten Frau führen wird.
"Es war mir immer schon sehr wichtig, für mich zu
sein, ich benötige große Flächen des
Alleinseins, und wenn ich diese wie in den letzten fünf Jahren
nicht bekomme, nimmt meine Frustration zuweilen beinahe panische oder
aggressive Formen an."
Während der Erzähler spürt, dass
ihm in seinem Drang, etwas Großartiges zu schreiben, die Zeit
davonläuft, wie Sand zwischen seinen Fingern zerrinnt, nagt
der Gedanke an ihm, sich aus dem Staub zu machen. Und so führt
er innerlich, nun auch auf dem Papier, einen Kampf. Einen ungleichen
Kampf des Künstlerdaseins gegen die unendliche Qual des
Alltagslebens, das ihm jedoch ebenso wichtig ist, wie die Freiheit,
schöpferisch tätig zu sein.
Als der Vater im Haus der Großmutter, in dem er zuletzt
dahinvegetiert hat, stirbt, hinterlässt er den Söhnen
ein schreckliches Bild einer verwahrlosten Wohnung. Eine
mehrtägige, unbeirrbare Putzaktion der beiden Brüder
bringt nicht nur den Ort der Verwahrlosung wieder in einen akzeptablen
Zustand, sie ist auch ein ganz wichtiger Faktor in der innerlichen
Auseinandersetzung mit dem Vater, sowie mit dem Tod des Vaters, dessen
Tod die Brüder erst dann wirklich glauben, als ihnen der
Bestatter auf ihren Wunsch die Leiche des Vaters zeigt.
Ein weiter wichtiger Bestandteil dieses Romans ist das Leben des
Erzählers mit seiner zweiten Frau in Stockholm. Auch hier die
Selbstzerfleischung des Erzählers, der mit den beiden Ebenen
seines Lebens, einerseits die Familie inklusive Kinder und
Alltagsleben, putzen, waschen, Wäsche ab- und
aufhängen, andererseits die schöpferische
Tätigkeit, für die er sich eine ganz kleine Wohnung
hält.
Karl Ove Knausgård beschreibt Gedanken, Szenen und
Gefühle, die jeder von uns sicherlich schon auf die eine oder
andere Art und Weise erlebt, gefühlt und gesehen hat.
Trotzdem, oder möglicherweise gerade deshalb, ist in der
ungeheuerlich schonungslosen und von jeglicher Schönmalerei
meilenweit entfernten Prosa von Karl Ove Knausgård eine
ungeheuerliche Originalität und Kraft zu spüren. Eine
archaische, fast hypnotische narrative Wucht, die den Leser von der
ersten bis zur letzten Seite dieses wunderbaren Romans fesselt und
mitreißt.
"Mitten in diesem Seelensturm wurde es Frühling."
Dieser Satz erscheint gegen Mitte des Buches in einem anderen
Zusammenhang, doch würde ich ihn als Motto bzw. vielleicht
sogar als Zusammenfassung dieses Romans deuten und sehen. Mit der
Bestätigung des Todes des Vaters
wird es im Leben des
Erzählers Frühling, der Seelensturm ist vorbei, und
der nächste Abschnitt des Lebens kann und soll nun beginnen.
So darf man sich schon sehr auf das Erscheinen des zweiten Teils
"Lieben" im Jahr 2012 freuen.
Unbedingte Empfehlung.
(Roland Freisitzer; 07/2011)
Karl
Ove Knausgård: "Sterben"
(Originaltitel "Min Kamp 1")
Aus dem Norwegischen von Paul Berf.
Luchterhand Literaturverlag, 2011. 575 Seiten.
Buch
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