Walter Kohl: "Leben oder gelebt werden"
Schritte auf dem Weg zur Versöhnung
Weshalb
jetzt noch eine Rezension
von Walter Kohls "Leben oder gelebt werden"? Sind darüber
nicht in
allen wichtigen Zeitungen und Magazinen ausführliche, das
Thema erschöpfende,
meist wohlwollende Besprechungen erschienen? Ist der bescheiden
auftretende
Autor nicht in Foren und Plaudersendungen der interessanteren Art
ausgiebig zu
Wort gekommen? Und kann man im Internet nicht unzählige
lesenswerte, aber auch
abgeschmackte Meinungen zu seinem Buch, zur Verarbeitung seiner
Kindheit, Jugend
und frühen Erwachsenenzeit lesen? 190.000 Einträge
bei "Google"
sollten doch ausreichen. Es sind hervorragende dabei wie die von
Christian Geyer
von der "F.A.Z.", andere von der hilflosen Sorte zuhauf. Doch das Buch
hält sich seit Monaten auf den Verkaufsbestenlisten, also
scheint es nach wie
vor Tausende von Lesern anzusprechen.
Den meisten ergeht es wie dem
Rezensenten: Sie sind fasziniert von Authentizität der
Schilderungen Kohls als
Zeitdokument und empfinden diese als wertvolle, wenn auch
naturgemäß sehr
subjektive Ergänzungen zum Bild eines Mannes, seines Vaters,
der eine bisher
ungewohnt lange Periode die Geschicke der Bundesrepublik Deutschland
wesentlich
gestaltete, der als "Kanzler der Einheit"
in die Geschichtsbücher
eingehen wird oder schon eingegangen ist, dessen Renomée im
Ausland überwältigend
war und dessen Ansehen im eigenen Land von Anfang an von gerechten und
ungerechten Klischees behaftet war. Und nicht nur bei seinen
politischen oder
gesellschaftlichen Gegnern, sondern bei den meisten seiner Mitmenschen
musste
dieser Kanzler, zumindest was die Sympathiewerte anging, nach denen er
wohl sein
ganzes Leben bis zur völligen Selbstverbiegung gierte, einem
Menschen seiner
unmittelbaren Umgebung den Vortritt lassen, seiner bald zur Ikone
aufgebauten
Frau Hannelore, die durch ihre nur tragisch zu nennende Erkrankung und
ihren
selbstgewählten Tod nahezu in eine Art Heiligenstatus versetzt
wurde.
Im ersten Teil von Walter Kohls
Buch, das in einem unaufgeregten, lesenswerten Stil geschrieben ist,
verfolgt
man mit wachsender Spannung die ungeheuren Probleme, in die Kinder
einer
Politikerfamilie geraten können, ja müssen; Probleme,
die letztlich nicht zu lösen
waren, selbst bei mehr Zuwendung als sie dem Autor und seinem Bruder
vergönnt
war. Dass er zu seiner Zeit nicht vor die öffentliche Meinung,
sondern meist
vor die öffentliche Häme gezerrt wurde, die ihm seine
unschuldige Opferrolle
zuwies, ist der besonderen Perfidie einer Gesellschaft gedankt, die
nicht
zuletzt durch die Paradigmenwechsel, die der eigene Vater ganz bewusst
einleitete, entstand. So, um nur einen zu nennen, das jahrzehntelang
geschmähte
Schmierenblatt der Nation zum Regierungsorgan zu küren, worin
ihm bis heute die
absurdesten Gestalten dieses Landes dankbar gefolgt sind. Das
politische Kalkül
ging auf, der Stil verrottete.
So liest sich das Buch mit
Hochachtung vor dem Kampf des Kindes um Anerkennung seiner Person als
einer
eigenständigen und mit Sympathie, dem "Mit-Leiden", dem man
sich
nicht entziehen kann. Nun, bis auf das letzte Fünftel.
Andernorts wurde schon
darauf hingewiesen, dass der Lektor das Kapitel "Opferland?!" nicht
habe passieren lassen wollen, der Autor jedoch darauf bestanden habe,
da es ihm
am Herzen lag. Weshalb nicht diese fünf Seiten zulassen, die
das ganz persönliche
Leid des Sohnes in durchaus nachvollziehbare Worte fassen. Doch wo er
das "Opferland"
wieder aufnimmt, nach einem erhellenden Kapitel über seine
Eltern,
da hätte
der Lektor die Reißleine ziehen sollen. Da beginnt das letzte
Fünftel des
Buches in einem Geschwurbel von sicher ehrlich gemeinter
Versöhnungsrhetorik zu
versinken, die in der Beschreibung des Ablaufs von Walter Kohls
Wiederfindung
wenig mehr als eine ganz persönliche Gebrauchsanleitung
bietet, ob nun
christlich fundiert oder nicht. Die Sätze verlieren ihr Tempo
und ihren inneren
Zusammenhang, und der spannende, auch stilistisch reizvolle Duktus des
bisherigen Buches gleitet in die zeitgemäße
Trivialität sogenannter
Ratgeberliteratur ab.
Und doch: Walter Kohls Buch ist
lesenswert! Lesenswert als das Zeitdokument, von dem die Rede war und
als mit
Respekt entgegenzunehmende Selbstdarstellung eines Menschen, der ohne
sein Zutun
eigentlich nur scheitern konnte und sich doch zuletzt zu behaupten
wusste. Man
sollte es nur nach Seite 221 zur Seite legen. Der Gewinn ist ein nicht
geringer.
(Horst Boxler; 06/2011)
Walter
Kohl: "Leben oder gelebt werden.
Schritte auf dem Weg zur Versöhnung"
Integral, 2011. 273 Seiten.
Buch
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Hörbuchausgabe:
Random House Audio, 2011.
Hörbuch
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Weitere Buchtipps:
Helmut Kohl: "Vom Mauerfall zur Wiedervereinigung. Meine Erinnerungen"
Der Kanzler der Einheit und Ehrenbürger Europas blickt zurück auf die
atemberaubenden Monate zwischen Sommer 1989 und Herbst 1990, als sich die Tür
zur deutschen Wiedervereinigung einen Spalt öffnete. Der deutsche Bundeskanzler
erkannte und ergriff die historische Chance mit Vorsicht, aber zielstrebig und
ohne Zögern. Nach Bismarck und Adenauer ist Kohl damit in die Geschichtsbücher
eingegangen. Er sagt: "Ohne Gottes Hilfe hätten wir es nicht geschafft."
Dr. Helmut Kohl war vom 1. Oktober 1982 bis
27. Oktober 1998 Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland. (Knaur)
Buch
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Heribert Schwan: "Die
Frau an seiner Seite. Leben und Leiden der Hannelore Kohl"
Was verbarg Hannelore Kohl hinter ihrem
versteinerten Lächeln? Was hatte es mit ihrer Lichtallergie auf sich? Zehn Jahre
nach ihrem tragischen Tod deckt Heribert Schwan auf, wie Hannelore Kohl lebte
und wie sie starb. Er stand bis zwei Tage vor ihrem Selbstmord in engem Kontakt
zu Hannelore Kohl und führte seither ausführliche Gespräche mit den engsten
Freundinnen und Vertrauten. Aus dieser Fülle an speziellem Wissen zeichnet er das
einfühlsame, aber auch erschütternde Porträt einer einsamen Frau.
Hannelore Kohl führte eine Ehe mit klassischer
Rollenverteilung: Er machte Karriere, und sie kümmerte sich um die Kinder.
Doch sein Leben als Politiker forderte mehr von ihr - ein Leben im
Rampenlicht. Zögernd ließ sie sich darauf ein, doch während ihr Mann politisch
immer einflussreicher wurde, versteinerte ihr Lächeln zur Maske. Heribert
Schwan war der Erste, dem es gelang, Hannelore Kohl im Jahr 1985 für ein
Fernsehporträt zu gewinnen, das damals großes Aufsehen erregte. Seitdem stand
er in regelmäßigem Kontakt mit ihr. Er erlebte aus der Nähe das ganze Drama
ihrer Krankheit mit. Als sie zuletzt das Haus tagsüber nicht mehr verlassen
konnte, begleitete er sie bei langen nächtlichen Waldspaziergängen. Sein
kritisches Urteil über die familiäre Situation der Kohls: In 42 Ehejahren mit
dem Machtmenschen Kohl wurde aus Hannelore Kohl, der Frau an seiner Seite, die
Frau in seinem Schatten. (Heyne)
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