Henning Ritter: "Notizhefte"
Wer sich zu dem Schritt
entscheidet, seine Notizhefte der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, sie in
einem Verlag verlegen zu lassen und so prinzipiell jedem, der ein Interesse
daran hat, Einsicht zu gewähren, der muss etwas zu sagen haben, dessen Einträge
in das Notizbuch dürfen nicht um die kleinen Probleme und Nebensächlichkeiten
des Alltags kreisen und gefangen sein in den Ansprüchen, Geburtstage von
Freunden nicht zu vergessen und dringend einen Arzttermin zu vereinbaren.
Henning Ritter, lange Jahre tätig als Ressortleiter "Geisteswissenschaften"
der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" hat mit seinen im Berlin Verlag
erschienenen "Notizheften" genau das nicht gemacht, einen Querschnitt
durch Belanglosigkeiten gegeben. Seine Hefte versammeln auf gut 400 dünnbedruckten
Seiten ein Sammelsurium tiefgehender Gedanken, die sich bei der Tätigkeit bei
einer der bedeutendsten deutschen Zeitungen quasi zwangsläufig einstellen.
Der geistige Mittelpunkt von Ritters Gedanken ist das 18. Jahrhundert und seine
Intellektuellen. Vor allem Betrachtungen über die französische Moralistik von
Autoren wie Montaigne,
Pascal, Voltaire, Rousseau
und Chamfort
sind immer wieder der Gegenstand der Auseinandersetzung. Dabei sind die Einträge
in diesem Notizbuch, nur in den seltensten Fällen länger als eine halbe Seite,
immer Beobachtungen, die auf eine genaue Auseinandersetzung
mit den Autoren schließen lassen, die Quellen und Bezugspunkte aber oft
im Grauen lassen, so dass die einzelnen Gedanken immer eine gute Vorbildung zum
Verständnis voraussetzen.
Die Themen sind, wie die geistigen Bezugsautoren, vielfältig, meist sind es
auch nur ganz spezielle Betrachtungen zu einem Aspekt, einem Denker, einer
Epoche oder einem Ereignis. Die Reihung der Beiträge, vielmehr das scheinbar
nicht in Verbindung Stehende, wird zum Ordnungsprinzip dieses Buches, das nur
der Leser sich selbst in einer eigenen Struktur erschließen kann.
Zu verlangen, eine eindeutige Struktur, klar geordnete Gedanken und eine
logische Argumentation vorzufinden, ist wohl ein an jedes Notizbuch falsch
formulierter Anspruch.
Und so sind auch Hennig Ritters "Notizhefte" das, was in einer Zeit ständiger
Beschleunigung und auf Eindeutigkeit zielender Trivialisierung von Inhalten
genau das, was Leser gebrauchen können: Ein Buch, das viele andere Bücher
aufschließt.
(Jan Hillgärtner; 01/2011)
Henning Ritter: "Notizhefte"
Berlin Verlag, 2010. 400 Seiten.
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Henning Ritter, 1943 geboren, war
von 1985 bis 2008 in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung"
verantwortlich für das Ressort "Geisteswissenschaften". Zahlreiche
Publikationen, u. A. als Herausgeber von Jean-Jacques Rousseaus Schriften und
Montesquieus "Meine Gedanken. Mes pensées - Aufzeichnungen"; zuletzt
veröffentlichte er "Nahes und fernes Unglück. Versuch über das Mitleid"
(2004) und "Die Eroberer. Denker des 20. Jahrhunderts" (2008). Im Jahr
2000 wurde ihm die Ehrendoktorwürde der Universität Hamburg verliehen, er war
Träger des "Friedlieb-Ferdinand-Runge-Preises" und des "Ludwig-Börne-Preises".
Henning Ritter starb im Alter von 69 Jahren nach kurzer schwerer Krankheit am 23. Juni 2013 in Berlin.