Lev Tolstoj: "Familienglück"
Ein
eher brüchiges Familienglück
Kann sich ein Mann in die Seele einer Frau hineinversetzen, so wie Lev
Tolstoj
dies in seinem Roman "Familienglück" versucht hat, indem er
nämlich
einer Ich-Erzählerin - Masa - das Wort erteilt? Dorothea
Trottenberg, die den
Roman ins Deutsche übertragen hat (der Verlagstext spricht von
der ersten adäquaten
Übersetzung ins Deutsche, was immer das heißen mag),
bemerkt dazu, dass der
Autor mit "bemerkenswertem
Einfühlungsvermögen" aus der
Perspektive der weiblichen Hauptfigur Masa zu erzählen vermag,
ein Eindruck,
den wohl jeder Leser teilen wird. Masa kann als Vorläuferin
von Anna
Karenina
oder Natasa Rostova aus "Krieg
und Frieden" angesehen werden. Wer also
von Tolstoj noch nichts oder nicht viel gelesen hat und vor diesen
beiden
Monumentalwerken ein wenig zurückschreckt, für den
bietet der Roman "Familienglück"
einen idealen Einstieg, um nähere Bekanntschaft mit diesem
Autor zu machen und
sich die Gedankenwelt Leo Tolstojs zu erschließen. Denn wie
in allen Werken
Tolstojs finden sich auch und gerade in "Familienglück"
selbstbiografische
Elemente. Und nicht nur die Handlung weist auf Begebenheiten aus
Tolstojs Leben
hin, hier entsprechen sogar Landschafts- und Naturschilderungen in
vielen
Details den Verhältnissen auf Tolstojs Landgut, wie uns die
Übersetzerin in
ihrem informativen Nachwort verrät.
Die Geschichte handelt von der Unbeständigkeit einer
Liebesbeziehung zwischen
der Ich-Erzählerin Masa und ihrem um zwanzig Jahre
älteren Vormund. Was als
scheinbar ungetrübtes Glück beginnt, treibt bald
schon ins trübe Fahrwasser
des Zweifels. Und von Beginn an ist die Angst treue Begleiterin des
Glücks, die
wie ein unabweisbarer Schatten neben dem Glück einhergeht. Die
Angst, die aus
der Gewissheit geboren wurde, dass alles auf Erden der
Unbeständigkeit und Vergänglichkeit
unterworfen ist. Und an einer Stelle im Roman ist die Rede vom "gleichmäßigen,
leidenschaftslosen Lauf der Zeit", dem sich alles einmal
unterordnen
muss. Tolstojs zentrales Thema ist die Vergänglichkeit, die
Vergänglichkeit
der Dinge, der Liebe, der Gefühle, die
Vergänglichkeit des Lebens. Leben heißt
bei Tolstoj fast immer Leiden, und unablässig fragte Tolstoj
nach dem Sinn und
Zweck des Lebens. Schopenhauer
war für ihn der genialste
Mensch, der ihm "eine
lange Reihe geistiger Genüsse" beschert hat.
Tolstoj erklärte, dass
alles Lug und Trug sei, sobald der Mensch seine höchste
Entwicklungsstufe
erreicht habe. Und als Masa sich am Ziel ihrer Träume
wähnt, da fallen wie aus
dem Nichts die Schatten des Zweifels auf ihr sonnenbeschienenes
Glück. "Wir
küssten uns, und dieser Kuss war so eigenartig, unserem
Gefühl so fremd. Und
das ist alles? dachte ich. Was denn, ist das etwa alles, was mir dieser
Moment
gegeben hat, von dem ich soviel erwartet habe?"
Dennoch bringt Tolstoj seinen Roman "Familienglück" noch zu
einem
einigermaßen versöhnlichen Abschluss. Masas letzte
Worte lauten: "...
und ein neues Gefühl der Liebe zu den Kindern und zum Vater
meiner Kinder begründete
ein anderes, aber auf ganz andere Weise glückliches Leben,
dass ich zum gegenwärtigen
Zeitpunkt noch nicht zu Ende gelebt habe ..." Doch auch in
diesen
Worten nistet der Zweifel. Tolstoj lässt also offen, ob dieses
neue Glück
auf
Dauer wird bestehen können.
(Werner Fletcher; 02/2011)
Lev
Tolstoj: "Familienglück"
Aus dem Russischen übersetzt und mit einem
Nachwort versehen von Dorothea Trottenberg.
Dörlemann Verlag, 2011. 190 Seiten.
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