Markus Preiter: "Die Logik des Verrücktseins"
Einblicke in die geheimen Räume unserer Psyche
Das
fehlerfreundliche Gehirn - ein absturzgefährdeter Akrobat
"Innere Vorgänge, die niemand sieht, sind das einzig
Interessante. (...) Das, was niemand sieht, das macht Sinn,
aufzuschreiben." (Thomas
Bernhard)
Unser Gehirn ist ein erstaunliches Organ. Es vollbringt permanent
Höchstleistungen. So steuert es nicht nur die gesamten
lebensnotwendigen Funktionen des Körpers, sondern vergleicht
gleichzeitig sämtliche Bilder, die von außen kommen,
mit den Informationen, die bereits gespeichert sind, mit Objekten und
Gefühlseindrücken, die wir im Laufe unseres Lebens
gesammelt haben. Aus all diesen Daten lässt es dann in
Sekundenbruchteilen die Eindrücke entstehen, die wir
wahrnehmen. Und es ermöglicht dem Menschen auch als einziges
Lebewesen über seine Vergangenheit und seine Zukunft
nachzudenken und sich die Fragen zu stellen: Was bin ich und was ist
nicht ich.
Diese Divergenz zwischen dem Ich und dem Rest der Welt erscheint uns,
gleichwohl wie das Leben auf der Erde mit seinen
Schwerkraftverhältnissen, ganz selbstverständlich.
"Erst wenn Menschen in Raumkapseln die Erde verlassen und sich
weltraumkrank in der Schwerelosigkeit bewegen müssen, erlangen
sie eine Anschauung über die
Nichtselbstverständlichkeit der Schwerkraft und ihrer
Kostbarkeit. Nur wer im Psychosevietnam war, weiß um die
innersten Dinge", schreibt Dr. Markus Preiter. Jedoch gerade
die
"endogenen Erkrankungen des Gehirns offenbaren den
Weltsichtgrundriss, über die Bezugsräume von uns
Menschen, mit deren Hilfe wir über die Straße des
Lebens dahingleiten."
Der stellvertretende Chefarzt der Abteilung für Psychiatrie
und Psychotherapie der "Asklepios Klinik Harburg" in Hamburg, der seit
mehr als zehn Jahren die Bedeutsamkeit evolutionärer Prozesse
für die menschliche Psychopathologie erforscht, räumt
auf mit den negativen Assoziationen, die das Wort Psychiatrie
auslöst. Er begleitet den Leser auf einem faszinierenden Weg
durch das menschliche "psychisch-krank-Sein" und beantwortet kompetent
und schlüssig Fragen, die sich zweifelsohne schon viele
gestellt haben: Warum kann sich ein Mensch überhaupt vom
Geheimdienst verfolgt und von den Nachbarn beobachtet fühlen?
Wie kann das sein, dass jemand Stimmen hört, die ihm Befehle
geben? Warum wird ein Mensch lebensmüde und will sich
umbringen? Warum hat jemand plötzlich panische
Angst
wie aus
dem Nichts?
Markus Preiter beschreitet in seinem Buch einen neuen Weg. Er
untersucht die "Verrückungen", die die Fachleute Psychose,
Depression, Manie, bipolare Erkrankung, Phobien oder Angsterkrankungen
nennen, mit dem Menschsein an sich. Sicherlich haben Störungen
im "normalen" Gefüge eines Menschen Ursachen, die
unterschiedlichster Couleur sein können, aber - und hier
kritisiert der Autor das vielfach in seinem eigenen Fachgebiet
vorherrschende unvollständige Kerninteresse - erst durch ein
übergreifendes Verständnis sämtlicher
psychopathologischer Phänomene kann man wirkliche
Rückschlüsse auf seelische Gesundheit ziehen.
"Man gibt sich zufrieden mit der Symptomoberfläche und
verweigert den Blick in die Strukturtiefe des Menschen", so
Preiter. Sein Buch ist ein gelungener Gegenentwurf und eine
Ergänzung, um das unstrukturierte "Zettelkastendenken" der
Psychiatrie, "in dem die einzelnen Krankheitsbilder
bezugslos nebeneinander aufbewahrt sind, in ein systematisiertes
'periodisches System' der Seele zu überführen."
Entstanden ist ein äußerst interessantes und
verständiges, wenn auch auf hohem fachspezifischem Niveau
geschriebenes Buch, das sich weniger auf Teilwissen beschränkt
oder Krankheitsbilder wie Schizophrenie
und die Depression
ausführlich erläutert, sondern das beim medizinisch
interessierten Laien Verständnis dafür erwecken will,
was "jenseits des Einzelfalles eigentlich hinter den
sogenannten psychopathologischen Auffälligkeiten des Menschen
generell steht." Gleichzeitig offenbart es sich auch als
Blick in den Spiegel, mit immer wieder überraschenden
Ansichten unserer selbst.
In "Die Logik des Verrücktseins" entwickelt Preiter ein
Basismodell, das die Evolutionstheorie als Orientierungskompass
heranzieht. Er entwirrt das verworrene menschliche Seelenlabyrinth,
indem er es in fünf Räume einteilt, die aus der
Geschichte des Menschen hervorgegangen und immer noch fest in jedem von
uns manifestiert sind. Evolutionäres Denken ist die Kernessenz
in seinem Werk, "da der Mensch doch zweifelsfrei das Produkt
einer evolutionären Entwicklung ist. (...) Die
Evolution hat
(...) soziale 'Navigierungskapazitäten' in unsere Vorfahren
integriert, die das Sein unter den anderen erleichtern und (...) vor
allem mit vier großen psychiatrischen Krankheitsbildern
assoziiert sind: mit der Schizophrenie, der Manie, der Depression und
den bipolaren Störungen." Eine
Vernachlässigung dieser Analyse, so Preiter, hat ein
rudimentäres Verstehen und Fehlinterpretationen zu Folge. Sein
Buch versteht sich als Versuch, "genau jenen bisher
vernachlässigten Aspekt menschlichen Seins, seine
evolutionäre Geschichte, in das Zentrum der Aufmerksamkeit zu
rücken und mit der schon immer sichtbaren Individualgeschichte
zu vereinen." Denn psychopathologische Phänomene
sind immer auch "Ausdruck einer Fehlalarmierung und einer
unzutreffenden Selbsttäuschung im Simulationsprozess des
Weltverständnisses."
Der Autor gliedert sein Buch in zwei Teile. Zunächst
beschäftigt er sich mit der menschlichen Kindheit, begibt sich
jedoch gleichfalls noch viel weiter zurück: in die Kindheit
der Menschheit. Markus Preiter formt sozusagen den Schlüssel
zum Seelenlabyrinth. Er beschäftigt sich ausführlich
mit dessen Raumstruktur und behandelt Themen wie die
evolutionäre
Bedeutung von Emotionen.
In Teil II öffnet er mit diesem Schlüssel die
Tür und betritt das Labyrinth. Hier erfährt der
Leser, was Psychopathologie über das Menschsein
verrät. Hier lernt er den Menschen als
Raumverhältnissuchenden kennen, der "mindestens so
lange unruhig ist, bis sich ein stimmiges und ausreichend beruhigendes
Raumverhältnis" um ihn herum einstellt. Und hier
geht Preiter auf die einzelnen Krisenzeiten des Menschen, die vier
großen psychiatrischen Krankheitsbilder, ein.
Nicht nüchtern, objektiv und kühl, sondern mit immer
wieder eingestreuten Fallbeispielen aus seiner eigenen Praxis,
würzt Markus Preiter seine Abhandlungen mit lockeren
Vergleichen, die sogar vor den Insassen von "Raumschiff Enterprise"
oder dem Einflechten von Lyrik nicht haltmachen.
Quintessenz des hervorragenden Buches: "Psychisch krank sein
ist kein Verrücktsein in einen anderen Sinnraum
außerhalb der menschlichen Normalität. Vielmehr
handelt es sich um eine Verdichtung dessen, was wir als Menschen sind
und was uns ausmacht. Die befremdlichen und manchmal
verstörenden psychiatrischen Phänomene sind
Verdichtungszitate der anthropologischen Matrix, die uns alle formt und
prägt." Psychopathologische Phänomene sind
"Chiffren einer hoch komplizierten biologischen Struktur, eines
biologischen Superrechners, der wunderbare Leistungen erbringt, aber
eben auch Fehlerpotenzen hat. Eine Systematik der Fehleranalysen (...)
ermöglicht, Fragen zu beantworten nach dem generellen
Strukturaufbau des Superrechners und seiner Funktionsweise im
fehlerfreien Betriebsmodus."
(Heike Geilen; 02/2011)
Markus
Preiter: "Die Logik des Verrücktseins.
Einblicke in die geheimen Räume unserer Psyche"
Kösel-Verlag, 2010. 352 Seiten.
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