Martin Walser: "Muttersohn"
"Es
gibt eine Sehnsucht, die nichts von sich weiß. Erst wenn man
sich ihr überlässt, erfährt man, wohin sie
einen haben will."
Schon bei der Lektüre der im Jahr 2010
veröffentlichten Novelle "Mein Jenseits" waren es
Sätze wie dieser, die den Rezensenten zusammenzucken
ließen. Es ist die Lebenseinsicht des
ich-erzählenden Protagonisten, August Feinlein, Chef des
Psychiatrischen Landeskrankenhauses in Scherblingen.
Er entdeckt als neue Lösung, als neuen Lebenssinn die
Glaubensbereitschaft. Als Liebhaber heiliger Antiquitäten hat
er sich auf eine Suche begeben, die viel
"Verklärungsbereitschaft" erfordert: "Es gibt eine
Sehnsucht, die nichts von sich weiß. Erst wenn man sich ihr
überlässt, erfährt man, wohin sie einen
haben will", sagt August Feinlein. Oder: "Unsere
europäischen Vorfahren haben auch gewusst, was man wissen
kann. Aber sie haben geglaubt, was sie glauben wollen. Wie schrieb der
Vorfahr (ein Vorfahr von Feinlein war der Mönch Eusebius)?
Glaube heißt, Berge besteigen, die es nicht gibt. Musik
gäbe es ja auch nicht wenn man sie nicht mache. Glauben, was
nicht ist, dass es sei."
Schon im Jahr 2010 mit dem Erscheinen von "Mein Jenseits" war bekannt
geworden, dass die Novelle zentraler Teil eines neuen Romans von Martin
Walser sein würde, an dem er schreibe. Man hat diesem Buch mit
großen Erwartungen entgegen gesehen, lag es doch nach der
Lektüre von "Mein Jenseits" nahe, dass Walser das
mittelständische Leidensszenario aus Mann, Bürgertum
und verpasstem Leben, das in so vielen seiner Romane beschrieben wurde,
wieder aufgreifen, ihm aber eine neue Wendung geben würde.
In dem alten Konflikt zwischen Wissensgesellschaft und
Glaubensgewissheit hat sich Martin Walser in dem nun vorliegenden
Alterswerk für den Glauben entschieden. "Ich glaube,
also bin ich" lässt er August Feinlein sagen, der
zunächst als Mentor eines jungen Mannes eingeführt
wird. Sein Name ist Percy, den ihm seine Mutter Fini gab in Erinnerung
an Percy Slegde. Dieser Percy ist 1977 in Stuttgart geboren, mitten in
der bleiernen Zeit, als die drei Köpfe der RAF, Baader, Ensslin
und Meinhof, sich in Stammheim selbst töteten. Als die
Kolleginnen von Fini dies mit Sekt feiern, protestiert sie
und wird entlassen - hochschwanger. Irgendwann
erzählt sie ihrem Sohn, dass zu seiner Zeugung kein Mann
nötig gewesen sie, und nennt ihn einen "Engel ohne
Flügel". Percy glaubt seiner Mutter und entwickelt
tatsächlich erstaunliche spirituelle Fähigkeiten, die
er unter der Mentorenschaft von August Feinlein im Psychiatrischen
Krankenhaus von Scherblingen, einem ehemaligen Kloster zwischen
Bodensee und Donau, wo er als junger Mann als Pfleger arbeitet, im
Kontakt mit Patienten zeigt. In Percy, so sagt Martin Walser in einem
Gespräch, habe er
"alle Helligkeit" hineingenommen, die er in seinen bisherigen
Geschichten nicht habe unterbringen können.
Feinlein lehrt Percy nicht nur Latein, Kirchengeschichte und
christliche Liturgie, sondern er bringt ihm die Mystiker nahe und ist
sein Schweigepartner. Denn Schweigen gilt in Scherblingen als ein
therapeutischer Ansatz, heftig bekämpft von Feinleins Kollegen
Dr. Bruderhofer, der nicht nur auf Psychopharmaka steht, sondern auch
auf Eva Maria, jene Frau, die August Feinlein sein Leben lang
vergeblich liebt. Und so ist das Buch voller mystischer Erkenntnisse
von Böhme, Swedenborg und Seuse, dass sich der
säkulare Leser manches Mal in einem theologisch-spirituellen
Traktat wähnt.
Zwei Menschen ist Percy, den ein Kritiker den "Jesus vom
Bodensee" genannt hat, während seiner Arbeit in
Scherblingen besonders nahe. Der eine heißt Innozenz, ein
schizophrener Patient, der eine Anthologie von Texten herausgibt, die
er liest und dann vernichtet. Und Ewald Kainz, jenem Mann, dem Percys
Mutter Fini 1973 bei einer Demonstration gegen die Berufsverbote einmal
einen Schirm über sein Manuskript hielt, in den sie sich
verliebte und dem sie während ihrer Ehe mit einem schwulen
Alkoholiker und Literaturbesessenen, der sich Arno Schmidt nennen
lässt, niemals abgeschickte Briefe schickt. Seinem Leben und
seinen vergeblichen Lieben ist ein ganzer der insgesamt fünf
Teile des Romans gewidmet.
Ein Roman, meisterhaft komponiert, der zu einem beeindruckenden
Glaubensbuch geworden ist, mit dem Martin Walser zum Kernsatz
christlicher Theologie vorgedrungen ist: "Credo, quia
absurdum est." Martin Walser geht es darum, glaubend
über das hinauszugehen, was greifbar und rational einsichtig
ist. Er will Grenzen überschreiten und das Unmögliche
für möglich halten.
Ein großes Buch eines Schriftstellers, der nie stehen
geblieben ist und der sich ohne Zwang und Angst vor Kritik Fragen des
Glaubens widmet und öffnet, die sonst in seiner Zunft eher
verpönt sind. Von Manchen wird deshalb sein Roman "Muttersohn"
belächelt werden. Der Rezensent hält ihn indes
für ein Meisterwerk.
(Winfried Stanzick; 08/2011)
Martin
Walser: "Muttersohn"
Rowohlt, 2011. ca. 512 Seiten.
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Hörbuchausgabe:
Argon, 2011.
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