John Irving: "In einer Person"
Was alles in einer Person
schlummern kann
Auf dem Umschlag der Originalausgabe dieses Romans von John Irving sieht
man einen nackten Rücken, enge Taille, etwas breitere Schultern und die
dazugehörigen Hände, die den BH zuhaken. Ein bei oberflächlicher Betrachtung
unwesentliches Foto, bei näherer Betrachtung bemerkt man, dass die Hände, wie
auch die Schultern, wahrscheinlich doch eher die eines Mannes als die einer Frau
sind.
Dieses Foto ist somit quasi der Ausgangspunkt für diesen spannenden Roman, der
sich eingehend damit beschäftigt, was es bedeutete, in der zweiten Hälfte des
zwanzigsten Jahrhunderts Schriftsteller, bisexuell, homosexuell und berühmt zu
sein.
Billy Abbott, Schüler in First River, Vermont, wird von seiner selbstgefälligen
Mutter, die von seinem vermeintlich eigensüchtigen Vater auf niederträchtige Art
und Weise verlassen worden sein soll, prüde erzogen. Im Schatten des bösen
Vaters aufwachsend, fürchtet sich Billy davor, ein ungutes genetisches Erbe
seines Vaters in sich zu spüren.
In erster Linie hat er diese Bedenken, weil er meint, immer für die falschen
Personen zu schwärmen. Seine Gedanken drehen sich um die Frage, wie sehr das
Schwärmen für die eine oder andere Person das Leben, ja auch die sexuelle
Orientierung beeinflussen kann.
Als seine Mutter mit dem neu in der Stadt angekommenen Englischlehrer Richard
Abbott zusammenkommt, ist dieser bald Ziel des Schwärmens des jungen Billy.
Billy gesteht seine Gedanken, während Richard ihm versichert, dass es keine
falschen Menschen gäbe, für die man schwärmen könnte. Er sichert ihm zu, dass
man sich in diesem Punkt weder zwingen, noch von irgendeiner Logik leiten lassen
kann.
Da er
der Meinung ist, dass Literatur hier eine heilende beziehungsweise bestätigende Wirkung
auf Billy haben kann, geht er mit ihm in die Stadtbibliothek. Dort trifft Billy
auf Miss Frost, "breitschultrig, stark, mit männlichen Händen und
jungmädchenhaften Brüsten" in die sich der Junge sofort verliebt.
"Ein flüchtiger Moment verstohlenen Begehrens, und ich wollte Schriftsteller
werden und Sex mit Miss Frost haben - nicht unbedingt in dieser Reihenfolge."
Nachdem
Billys Mutter den Englischlehrer heiratet und mit diesem in eine Wohnung der
Fakultät am Campus zieht, begegnet er seiner Lebensfreundin Elaine, die ihn
ebenso erregt und ihm später die Möglichkeit geben wird, ihren BH zu tragen,
sowie Jacques Kittredge, einem Dandy und machohaften Ringer, für den er ebenso zu
schwärmen beginnt.
Als er durch Tratsch erfährt, dass Miss Frost früher als Mann und Ringer "Big
Al" bekannt war, erregt das sein Interesse noch mehr. Bald ist er in seinem
Bestreben, Miss Frost näher zu kommen, erfolgreich.
Theater, Strindberg und skurrile Familienmitglieder, die bereits eindeutige
Tendenzen in die Richtung Bisexualität zeigen, sowie interessante Betrachtungen
diverser literarischer Werke, mit und ohne Bezug zum alles beeinflussenden
Thema, steuern die weiteren Handlungsstränge dieses sehr sympathischen Romans.
Immer wieder grübelt Billy über seine Leidenschaft, seine Schwärmereien und
seine sexuelle Orientierung, ein Grübeln, das bereits eher zur
Selbstzerfleischung tendiert.
Natürlich fliegt das Verhältnis auf, so wie alles immer ans Tageslicht kommen
muss. Dadurch beginnt das Leben des jungen Billy aber erst, der seinen
schwierigen Weg ins Erwachsenendasein finden muss. Ein Weg, der,
gekennzeichnet durch seine Bisexualität, immer wieder diversen Schwierigkeiten
ausgesetzt ist. Denn auch seine späteren Liebhaber wollen sich nicht ganz mit
Billys nicht uneingeschränkter Konzentration auf ein Geschlecht abfinden. Sie
können entweder nicht glauben, dass er sich wirklich für Frauen interessiert,
oder werfen ihm vor, unehrlich in Bezug auf seine Homosexualität zu sein.
In weiterer Folge betrachtet Billy Abbott die politische Entwicklung in den USA,
die Bewegung der gleichgeschlechtlichen Liebe zum Beispiel in San Francisco und
in weiterer Folge das große Sterben an AIDS, an dem auch einige der
Jugendfreunde des Protagonisten sterben.
John Irving hat einen Roman geschrieben, der sich sehr eindringlich um das hier
zentrale Anliegen bemüht, der in vielen Momenten wirklich großartig ist.
Besonders beeindruckend sind der erste Teil und die erste Hälfte des zweiten Teils.
Sehr schön auch, wie fein der Autor die Korrektur der anfangs dubiosen
Erscheinung von Billys leiblichem Vater einbaut. Ab der zweiten Hälfte des
zweiten Teils schleichen sich immer wieder Übermüdungserscheinungen in den Text
ein, vieles wird zu lange breitgetreten und verliert dadurch an Prägnanz und
Eindringlichkeit.
Trotzdem ein wichtiger, sehr guter Roman eines großen Autors.
(Roland Freisitzer; 11/2012)
John Irving: "In einer Person"
(Originaltitel "In One Person")
Aus dem Englischen von Hans M. Herzog und Astrid Arz.
Diogenes, 2012. 722 Seiten.
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