Nikos Kavvadias: "Die Schiffswache"
Psychogramm des Seemanns
Dieses
anno 1954 erstmals erschienene Buch stammt von einem alten
Seebär, der - durch Zwang wie Neigung -
die
meiste
Zeit seines Lebens auf hoher See oder auf Zwischenstation in einer der
Hafenstädte
dieser Welt verbrachte. 1910 in der Mandschurei als Sohn griechischer
Eltern geboren, wuchs Nikos Kavvadias auf deren Heimatinsel Kefalonia
sowie in
Piräus auf. Seit 1928 befuhr er auf Frachtschiffen die Meere,
erst als einfacher Matrose, seit
1939 war er als
Funker tätig; von dem Kapitänsdiplom, das er
ebenfalls erwarb, machte
er niemals Gebrauch. Er starb fünfundsechzigjährig, anders als
er es gewünscht, nicht unterwegs, sondern in
einer Athener Klinik.
Mit seinen
Lyrikbänden ("Marabu", "Nebel", "Traverso") hat sich Kavvadias
in Griechenland als Lyriker schon früh einen Namen gemacht.
"Die
Schiffswache"
ist sein einziger Roman, in dem es weniger um die Freuden des
Reisens, Schilderungen und Vergleich diverser Hafenstädte und
ihrer Menschen geht, wenn auch einiges davon in das Werk
miteingeflossen ist, auch
nur
nebenbei um das Seemannshandwerk und seine Tücken, sondern um
das, was die innere Welt von Seemännern ausmacht.
Ein
griechisches Frachtschiff, eine ziemlich abgetakelte Schrottkiste, die
noch ohne Echolot auskommen muss, ist
nur mehr ein paar Tage von ihrem Zielhafen Shantou an der chinesischen
Küste entfernt, und an dem
noch nicht achtzehnjährigen Assistenten wurden vom Funker,
der in
Notfällen als Arztersatz fungiert, die ersten
Symptome von
Syfilis festgestellt. Sei es durch diese in dem Milieu nicht unbekannte
Krankheit, sei es durch das baldige Vorankergehen - die Zungen vieler
Besatzungsmitglieder
beginnen sich zu lösen. Während
der letzten Schiffswachen erzählen
sie einander Geschichten aus ihrer
Vergangenheit, vor allem der Zwischenkriegszeit, berichten
einander von wichtigen oder sonstwie prägnanten Ereignissen
während ihrer Laufbahn, tauschen sich über ihre
Erfahrungen
und Meinungen
aus.
Im Zentrum steht dabei die Frau. Ob es nun die langen Perioden, in
denen die Männer keine solche zu Gesicht bekommen, sind, die
Vertrautheit mit diversen Hafenbordellen oder die
Schwierigkeit, bei dieser Art von Alltag eine dauerhafte Beziehung zu
unterhalten, fast alle teilen sie eine ambivalente Besessenheit vom
Weibe, oft muss man geradezu von einem gestörten
Verhältnis sprechen. Entsprechend drehen sich viele
Geschichten um die Auslöser und Ursachen dieser
Störungen, um
frühere Geliebte und um Erfahrungen mit dem Prostituiertenmilieu. Im
übrigen hat Kavvadias unter Gehörtem und
Selbsterlebtem eine gute Auswahl getroffen, er lässt
eine große Spannbreite an Charakteren (wenn auch
allesamt mediterrane Männer mit einer gehörigen
Portion Patriarchat) zu Wort kommen und es gelingt ihm gut, durch
Kontrastierung der Geschichten und durch kritische Kommentare der
Zuhörenden die biografische Wucht des Gesagten zu
relativieren.
In der Folge wird der Roman individueller, indem der Funker des Schiffes (namens Nikos, wenn auch nebenbei Maler und nicht Lyriker), der zunächst nur einer von vielen Erzählenden/Zuhörenden war, von einer Erinnerung eingeholt wird, nach langer Zeit wieder zur Flasche greift und danach stundenlang seinen Rausch ausschläft bzw ausmonologisiert. Das alkoholauslösende Abenteuer wird dabei ebenso noch einmal unter die Lupe genommen wie andere Erfahrungen mit Frauen (auch hier in erster Linie von Prostituierten), die Frage nach der Richtigkeit von Lebensentscheidungen gestellt, das in die Welt Geworfenseins des Seemannes, für den es früher oder später keinen Heimathafen mehr gibt, spürbar gemacht, von einer regelrechten Sucht nach immer neuen Eindrücken und Erinnerungen, die ihn in die Ferne getrieben hat und treibt, gesprochen. Herauszuheben ist die große Kunstfertigkeit, mit der Kavvadias besonders in diesem Monolog wie in dem Roman überhaupt die wichtigsten Motive seines Berufsstandes einbaut und von verschiedenen Perspektiven her beleuchtet: Briefe, Schmuggel, Einsamkeit, Träume, Gestrandetsein, Seekrankrankheit, Vorurteile von Landratten, Schiffbruch, Möwen, Haie, Kakerlaken, Heuerlosigkeit, blinde Passagiere etc als variierte Themen im Leben eines Seemanns.
Schließlich läuft das Schiff in Shantou ein, wo es, da man sich unversehens auf Kriegsgebiet wiederfindet, gar nicht einfach ist, für den Assistenten einen Arzt zu finden. Ein tragischer Zwischenfall, ein überstürzter Aufbruch, der die Erzählung eines anderen ebensolchen aus Ceylon Jahre früher auslöst, ehe der Roman mit einem surrealistisch anmutenden Bild schließt: auf dem Kai lösen zwei Frauen in Abendrobe die Leinen und winken den sich Entfernenden mit Taschentüchern zum Abschied.
(fritz; 09/2012)
Nikos
Kavvadias: "Die Schiffswache"
(Originaltitel "Vardia")
Aus dem Neugriechischen von Maria Zafón.
Unionsverlag, 2012. 276 Seiten.
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