Stefan aus dem Siepen: "Das Seil"
Ein ebenso gefährliches wie
bizarres Abenteuer
Mit einer wunderbaren, dichten,
reichen und ausdrucksstarken Sprache erzählt der im diplomatischen Dienst der
Bundesrepublik Deutschland tätige Autor Stefan aus dem Siepen eine
Geschichte aus einer fernen Zeit, die doch als Parabel gelesen werden will und
versteckt angedeutete Hinweise auch auf gegenwärtige Phänomene gibt.
Ein kleines Dorf. Versteckt, inmitten großer, schier unendlich
scheinender Wälder führen die wenigen Menschen, die dort mit ihren Familien
wohnen, eine eher kärgliche Existenz. Sie scheinen aus der Zeit gefallen. Man
erhält keine Angabe darüber, wo sich das Dorf befindet und zu welcher Zeit die
Handlung spielt. Wenn man die Art und Weise betrachtet, wie diese Bauern
und Jäger ihr Feld bestellen, (sie ernten das Getreide mit Sensen), und wie sie
jagen, (mit Pfeil und Bogen), dann schreiben wir vielleicht irgendein Jahr im 19.
Jahrhundert.
Doch während man sich, von der ersten Seite an, nicht nur von der Handlung, sondern
vor allem auch von der ebenso anspruchsvollen wie reichen Sprache gefesselt, in
kurzer Zeit durch das dünne Buch liest, werden diese Informationen immer
unwichtiger.
Denn es ist nicht von Belang für die Aussage des Buches, wann die Menschen gelebt
haben, sondern wie sie sich in einer bestimmten Situation verhalten und welche
Rolle einzelne Protagonisten, die es sehr wohl gibt, spielen.
Eines Tages, die Ernte steht kurz bevor, weil ein schlechter Sommer die Erträge
bedroht, geht der junge Bauer und Familienvater Bernhard auf seinem gewohnten
Abendgang um das Dorf. Da findet er auf einer Wiese am Waldrand ein Seil. Ein
dickes, wertvolles Seil ragt da mit seinem Ende aus dem Gras und macht Bernhard
neugierig. Er folgt seinem Verlauf etwa zehn Minuten lang in den Wald, und als er das
Ende nicht sehen kann, kehrt er wieder nach Hause zurück. Doch schon früh
morgens ist er wieder auf und erzählt den Anderen aufgeregt von seiner
Entdeckung. Die übrigen Dorfbewohner nehmen
das alles zunächst einmal nicht ernst, doch schließlich wird beschlossen, dass
Michael, Raimund und der etwas aus dem Rahmen des Dorfes fallende Uli in den Wald
gehen, um das Ende des Seils zu suchen. Ein Angriff eines Ebers, bei dem Uli
schwer verletzt wird, vereitelt diese Suche schon bald.
Doch bereits am nächsten Morgen wollen die Dörfler, wie aus dem Siepen sie nennt,
erneut losziehen. Sie erhalten Unterstützung und ideologische Aufrüstung durch Rauk,
einen Lehrer mit einem Klumpfuss und zwei mächtigen Doggen, Thor und
Hetzer, die ihn auf Schritt und Tritt begleiten. Rauk, der zwei Tagesmärsche
entfernt in einem Marktdorf wohnt und in bestimmten Abständen im Dorf
auftaucht, um die Kinder der Dörfler zu unterrichten, ist am Abend, wie immer
plötzlich, aufgetaucht und zeigt sich von der Geschichte des Seils begeistert.
Er besteht darauf, am nächsten Morgen mitzuziehen. Die Männer sind gespalten,
doch sie schweigen. Denn "die Dörfler standen zu Rauk in einem
scheu-unherzlichen Verhältnis, in dem sich Respekt und eine heimliche, nicht
recht in Worte zu fassende Abneigung die Waage hielten. Zwar wussten sie es zu
schätzen, dass er ihren Kindern, aus irgendeinem gutartigen Antrieb heraus,
wenigstens eine Spur von Bildung zu geben versuchte. Doch zugleich war er ihnen
nicht geheuer, sie brachten es nicht fertig, auch nur ein paar Worte mit ihm zu
wechseln, ohne ein Gefühl des fremdartigen, auf unbegreifbare Art Bedrohlichen
zu empfinden."
Warum sie mit ihrem Gefühl Rauk gegenüber gar nicht so falsch liegen, entpuppt
sich im Verlauf einer spannenden Handlung, in deren Verlauf sich am nächsten
Morgen eine große Gruppe aufmacht, darunter auch Bernhard, dessen Frau Agnes mit der erst
vor Kurzem geborenen Tochter Elisabeth, den verletzten Uli pflegend, mit den
anderen Frauen, den Kindern und einem alten Mann zurückbleibt. Am Abend, so
sagten sie, wollten sie schon wieder da sein, denn am nächsten Tag soll die
Ernte beginnen, die über Tod oder Leben der Dorfbewohner im nächsten Jahr
entscheidet.
Doch das Seil nimmt kein Ende. Während Bernhard auf eine Rückkehr drängt,
schafft es Rauk mit seinen geschliffenen Reden, den Dörflern zu suggerieren, dass
sie etwas ganz Großem auf der Spur seien. Bernhard lässt sich von den Anderen
noch einmal überreden. Doch am Ende des zweiten Tages kehrt er zusammen mit
zwei Begleitern um. Er wird seine Frau und seine Tochter nie mehr wiedersehen ...
Sehr geschickt wechselt Stefan aus dem Siepen mit jedem neuen Kapitel die
Perspektive. Einmal ist er bei der Gruppe, die unter dem immer stärkeren
ideologischen Einfluss Rauks dem Seil nachhetzt und alles vergisst, was einmal
ihr Leben ausgemacht hat, dann bei dem nachdenklichen und kritischen Bernhard,
der es als Einziger wagt, Rauk die Stirn zu bieten, und dann wieder bei den
Zurückgelassenen im Dorf.
Als die Seilgruppe nach Tagen auf ein verlassenes Dorf trifft, rechtfertigt Rauk
dessen Plünderung, und die Bauern sind erschrocken darüber, was sie dort
veranstalten. Doch ihre betroffene Nachdenklichkeit wird von Rauk sofort
weggeredet, und sie laufen weiter.
Später, so viel sei verraten, wird deutlich, warum dieses Dorf verlassen wurde.
Und obwohl die Gruppendynamik der Seilgruppe bis hin zum Mord eskaliert, gehen
die Betroffenen weiter und immer weiter ...
Es ist eine gelungene Parabel, die von menschlichen Obsessionen erzählt und
davon,
welches Verhängnis es über Menschen bringt, wenn sie mit einer Idee oder einem
Vorhaben einfach nicht aufhören können. Überdies wird der böse Einfluss, den Menschen
mit ihrer Sprache auf andere ausüben können, thematisiert.
(Winfried Stanzick; 06/2012)
Stefan aus dem Siepen: "Das Seil"
dtv, 2012. 180 Seiten.
Buch
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Digitalbuchausgabe:
dtv, 2012.
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Stefan aus dem Siepen wurde 1964
in Essen geboren, studierte Jura in München und trat in den Diplomatischen
Dienst ein. Über Stationen in Bonn, Luxemburg, Shanghai und
Moskau führte ihn
sein Weg nach Berlin, wo er seit 2009 im Planungsstab des Auswärtigen Amtes
arbeitet. Nach "Luftschiff" (2006) und "Die Entzifferung der Schmetterlinge"
(2008) ist "Das Seil" sein dritter Roman.
Weitere Bücher des Autors:
"Die Entzifferung der Schmetterlinge"
Peter Nauten führt das Leben eines einzelgängerischen, auf liebenswürdige Weise
hilflosen Menschen. Schon früh muss er erkennen, dass er trotz größtem Bemühen
keine Aussichten besitzt, es im bürgerlichen Dasein zu etwas Vorzeigbarem zu
bringen. In München beginnt er ein Studium der alten Sprachen; es bringt ihn mit
den rebellischen Umtrieben von 1968 in Berührung und endet, nach wenigen schönen
Semestern voller Nichtstun, im Debakel. Er arbeitet bei einer Versicherung,
wofür er sich wenig eignet; als man ihn bereits nach kurzer Zeit wieder auf die
Straße setzt, ist er nicht weiter verwundert. Er heiratet eine Frau, gegen die
einiges spricht, und die Scheidung lässt nicht lange auf sich warten. Er wird
Kellner in einem Münchener Szene-Café der wilden 1980er-Jahren; die Gäste halten
ihn für eine Witzfigur und schließen ihn doch in ihr Herz, denn keiner kann sich
erinnern, je einen Kellner erlebt zu haben, der mit so verschrobener Eleganz
einen Cocktail zu servieren verstand. Schließlich wagt er sich an eine Aufgabe,
die das ehrgeizigste und zugleich sonderbarste Unternehmen seines Lebens ist:
Die Entzifferung der Schmetterlinge. Es gilt, eine Geheimschrift zu entziffern,
die ihm endlich Aufschluss über die Rätselhaftigkeit der Welt geben soll ...
Eine wunderbar humorvolle, zugleich von melancholischem Ernst getragene Parabel
über einen liebenswerten Anti-Helden, die, ganz nebenbei, den deutschen
Verhältnissen der Nachkriegszeit bis heute den Spiegel vorhält. Absurd, komisch
und voll bezaubernder Poesie. (Atrium, dtv)
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"Luftschiff"
Für Oberregierungsrat Neise geht ein lang ersehnter Traum in Erfüllung: die
Reise mit dem Luftschiff von Berlin in die USA. Es sind die 1920er-Jahre, die
Welt ist in Bewegung, und der Beamte Neise möchte für einen kurzen Moment der
Alltagsroutine seines Schreibtisches entfliehen. Endlich ist es soweit: das
Luftschiff startet von Berlin Tempelhof, Neise richtet sich in seiner
behaglichen Kabine penibel ein. Er besichtigt die Bibliothek, das Raucherzimmer,
den Salon, lauscht den angenehmen Klängen des Bordorchesters, knüpft
interessante und kuriose Bekanntschaften und erlebt den sagenhaften Anblick von
Paris aus der Luft. Entgegen seinen sonstigen Gewohnheiten gönnt sich Neise
sogar ein Techtelmechtel, das ihn zu tiefschürfenden Gedanken über die
Philosophie der Liebe anregt. Nach drei Tagen angenehmster Fortbewegung und
gepflegter Unterhaltung soll das Luftschiff in den USA landen. Doch aus
unerklärlichen Gründen kommt alles ganz anders, Raum und Zeit existieren nicht
mehr, die eben noch so kleine, bürgerlich-heile Gesellschaft steuert dem
unvermeidlichen Chaos entgegen ...
Ein ungewöhnlicher, komischer und von beißender Ironie getragener Roman, der in
eine faszinierende Welt von kafkaesker Absurdität entführt. (Atrium)
Buch
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