Norbert Zähringer: "Bis zum Ende der Welt"
Von
Sternen, Westmännern, Ostfrauen, Tschernobyl, Baikonur,
Kometen und anderen Ereignissen ...
Norbert Zähringers Roman hält leicht, was die
Vorgänger "So" und "Einer
von vielen" versprochen hatten. Wie bereits in den
früheren Romanen hat Zähringer offensichtlich keine
Hemmungen, eine ganz und gar nicht minimalistische Geschichte zu
erzählen; mit spannenden Handlungssträngen und
treffender Figurenzeichnung. Wenn auch einzelne Momente leicht
verdächtig an der Grenze zur Glaubwürdigkeit kratzen,
geht seine Rechnung am Ende doch voll auf. Das ist angenehm erfrischend
und macht Lust auf mehr ...
Anna Tschertschenko hat nach dem Tod ihrer Großmutter
niemanden mehr. Nur ihren Vater. Der einbeinige Alkoholiker hat
allerdings bis dahin kaum Interesse an seiner Tochter gezeigt und war
lediglich zur Abiturfeier erschienen, um sich auf dieser volllaufen zu
lassen. Bald nach dem Tod seiner Schwiegermutter erscheint er und
nistet sich in der Wohnung zusammen mit seinen Saufkumpanen ein.
Norbert Zähringer zeichnet hier Szenen, die erstaunlich
realistisch und glaubhaft sind.
Oft denkt Anna an ihren Großvater, der mit der sowjetischen
Raumfahrt in Verbindung war und der in Anna die Liebe zu den Sternen
entfacht hat.
Anna weiß, dass sie weg muss und sieht einen westlichen Mann
als einzigen Ausweg aus ihrer Misere. Von der Agenturchefin dazu
angehalten, spezielle Freizeitvorlieben zu nennen, gibt sie Astronomie
an, und genau dieser Punkt ist es, der zur Bekanntschaft mit dem
ältlichen Gerhard Laska führt.
"Was ist ein richtiges Hobby?
Das ist etwas, was man in seiner Freizeit macht, aber nicht, um das
Leben zu genießen, sondern um es zu vergessen. Es ist so eine
Art zweites Leben, ein kleines Glück, das die Mühen
des Alltags vergessen lässt. Die Männer aus dem
Westen lieben und pflegen ihre Hobbys. Sie sammeln exotische Pflanzen,
Fische, alte Schallplatten oder Spielzeugeisenbahnen. Sie kochen,
putzen, züchten Hunde und seltene Fische. Es hält sie
jung, verhindert, dass sie melancholisch werden und zum Wodka greifen.
Deshalb sind sie so erfolgreich."
Da Gerhard Laska sich angenehm von den meisten
Männern unterscheidet und offensichtlich gar nicht plant,
irgendwelche Avancen zu machen, nimmt Anna seine Einladung nach
Deutschland an. Anna erfährt, dass Laska bald sterben wird. Er
bietet ihr zwanzigtausend Euro dafür an, ihn bis zu seinem Tod
nach Portugal zu begleiten, da er nicht allein sterben
will. Da weder
das Heim Laskas, noch seine Vorhaben, die Anna gar nicht einordnen und
verstehen kann, ihren Vorstellungen entsprechen, entschließt
sie sich zuerst, zu verschwinden.
An dieser Stelle beginnt ein spannender Erzählstrang, der mit
einer filmreifen Entführung anhebt und durch eine fast
unglaubliche Wendung wieder bei Gerhard Laska endet. Absurde Figuren
säumen den Weg Annas, russische oder ukrainische Stiernacken
mit Markensonnenbrillen, ehemalige Kollegen ihres Vaters, die seine
bisherigen Erzählungen über den Verlust seines Beines
in
Afghanistan in ein anderes Licht rücken, die
vermeintliche
Rotlicht-Stadt Castrop-Rauxell; so entschließt sich Anna nach
ihrer Flucht, doch mit Gerhard Laska nach Portugal zu gehen.
In Portugal wird ein weiterer Erzählstrang
eingeführt, der die Thematik "Deutschland und die
Gastarbeiter" auf differenzierte Art in eine andere Richtung lenkt. Der
portugiesische Polizist Yuri Fernao Gouveia, benannt nach dem
russischen Astronauten Gagarin und Sohn des millionsten Gastarbeiters
in Deutschland, bekommt es mit einem mysteriösen, abgetrennten
Finger zu tun, der ihn am Ende zu Anna führen wird. Wie, wird
an dieser Stelle nicht verraten.
Zwischen Anna und Laska entwickelt sich eine Art Freundschaft, die im
gemeinsamen Sterneschauen und einer Kometensuche gipfelt.
Ob der vom russischen Wort für Zärtlichkeit
abgeleitete Name "Laska" von Norbert Zähringer bewusst
gewählt worden ist, sei dahingestellt, der Rezensent vermutet
jedoch, dass der ruhige und feine Laska seinen Namen nicht
zufällig erhalten hat.
Norbert Zähringer führt virtuos die diversen und
teilweise auch absurden Erzählstränge und Ideen auf
besonders spannende Art und Weise zusammen und treibt die Handlung auf
ein großes Finale zu, über das hier auch nicht mehr
verraten werden soll.
Norbert Zähringers Prosa ist präzise und
schnörkellos. Sie dient in erster Linie dem
erzählerischen Zweck und ist nicht das Ergebnis einer
selbstgefälligen, befindlichkeitsprosaähnlichen
Verweigerung jeglicher erzählerischer Linie, wie sie
häufig in der jüngeren deutschsprachigen Literatur zu
finden ist. Und so folgt man gebannt der Geschichte von Anna, Gerhard
Laska, dem einbeinigen Vater, Yuri, von verschiedenen
Bösewichten und vermeintlichen Serienärzten, von Kiew
über Berlin nach Portugal.
Zusätzlich ist "Bis ans Ende der Welt" ein tiefgehendes Buch
über Verständnis, Liebe, Verlust und Vertrauen, was,
wie bei großen Erzählern immer, nie
vordergründig erkennbar ist, sondern erst als Summe des soeben
Gelesenen. Und ein großer Erzähler ist Norbert
Zähringer allemal.
(Roland Freisitzer; 07/2012)
Norbert
Zähringer: "Bis zum Ende der Welt"
Gebundene Ausgabe:
Rowohlt, 2012. 271 Seiten.
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Digitalbuchausgabe:
Rowohlt, 2012.
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