Serhij Zhadan: "Die Erfindung des Jazz im Donbass"
Serhij Zhadans surrealer "Wilder
Osten"
"Telefone existieren, um
unangenehme Dinge mitzuteilen. Telefonstimmen klingen kalt und offiziell, mit
offizieller Stimme lassen sich schlechte Nachrichten leichter überbringen ..."
Mit einem solchen Anruf, um fünf Uhr morgens, beginnt Hermanns wilde und
verrückte Odyssee durch surreale ukrainische Gegenden, in aberwitzigen
Schmugglerbussen und Verbrecherzügen, mit Nomadenstämmen und eigentlich längst
toten Fußballkollegen von früher.
Hermann erfährt von Kotscha, dem Geschäftspartner seines Bruders, dass der
Bruder weg ist. Vermeintlich nach Amsterdam. Warum? Das wisse man nicht. Es gäbe
statt Informationen Probleme. Probleme mit der Tankstelle. Probleme, die Hermann
sofort lösen kommen solle.
Und so macht sich Hermann, zusammen mit den beiden absurden Cousins Lolik und
Bolik, (wer russische Kinderfilme kennt, wird das Traumpaar sofort optisch
zuordnen können), auf den Weg, die Tankstelle des Bruders zu retten. Wovor, das
weiß er noch nicht.
Serhij Zhadan zeichnet ein absurd surreales Bild dieses wilden Abschnitts der
Ukraine,
das dem Original gar nicht unähnlich ist. Seine Prosa ändert nur ein
wenig die Beleuchtung und erzielt so ein Maximum an unterschiedlichen Farben und
schillernden Stimmungen.
Das Team der Tankstelle wird mit "dem Versehrten" und der Buchhalterin Olga
komplettiert, die alle eine sehr freie Zeiteinteilung und Arbeitsmoral haben.
Auch die junge Nachbarin Katja mit der Hündin Pachmutowa fügt sich perfekt in
das Bild von witzig-absurden Gestalten ein. Protagonisten, die Hermann skeptisch
betrachten, weil sie (ebenso wie Hermann) noch nicht wissen, was Hermanns
Erscheinen wirklich bedeuten wird.
Bald tauchen die Vorboten der Bösewichte, danach Nikolaiewitsch auf, ebenso nur
ein Schmalspurbösewicht, die verdächtig viel Druck auf Hermann ausüben, damit er
die Tankstelle verkaufen möge. Er beginnt sich für die Sache zu interessieren
und wird immer weiter in den Sumpf der Kleinstadtunterwelt hineingezogen. Er
vertieft seine Beziehungen zu Olga, Kotscha, zu Katja, zum Versehrten, die ihn
rechtzeitig vor einem Anschlag auf sein Leben in einen Zug dritter Klasse
setzen, damit er fliehen kann.
Damit beginnt der zweite Teil
des Buches, der eigentlich auch "Heimkehr" betitelt sein könnte, da Hermann über
absurde Stationen, die teilweise sehr surreal sind, eigentlich die ganze
Flucht über auf dem Heimweg nach Woroschilowgrad, in die Stadt seiner Jugend, ist.
Er begegnet Kosaken und Tartaren, wird Zeuge von düster geheimnisvollen
nächtlichen Aktionen, nimmt an abgefahrenen Hochzeiten teil, kommt immer wieder
verschiedenen geheimnisvollen und aufregenden Frauen näher, bis er am Ende
voller Mut zur Tankstelle zurückkehrt und das Ganze in ein witzig absurdes
großes Finale mündet.
Ganz nebenbei merkt man, wie
kritisch der Autor die Entwicklungen in seinem Land, oder auch Einflüsse der
Europäischen Union betrachtet, sehr bewundernswert, wie dezent und als
Hintergrundfarbe getarnt das verpackt ist. Auch die traumatischen Jahre der
Loslösung von der UdSSR sind wie ein in den Zahnzwischenräumen hängengebliebenes
und ständig auf sich aufmerksam machendes Stückchen Fleisch vorhanden.
Die Übersetzung von Juri Durkot
und Sabine Stöhr ist durchgehend überzeugend und somit eine große Hilfe für das
Verständnis dieses doch sehr eigenwilligen Textes in der deutschen Sprache. Die
versteckten Anspielungen sind auch für nicht russisch-ukrainisch erfahrene Leser
durchaus verständlich und logisch.
Serhij Zhadan hat mit "Die
Erfindung des Jazz im Donbass" einen wunderbar spannenden und temporeichen Roman
vorgelegt, der, einerseits dank einer sich stringent entwickelnden und ständig
an Spannung zunehmenden Handlung, andererseits aber auch dank einer sehr
abwechslungsreichen, immer wieder auch rotzig-frech-poetischen Prosa, einer der
absolut stärksten und mitreißendsten Romane des Bücherherbstes 2012 ist.
Egal, wie absurd die Begegnungen, die Handlungsstränge oder auch Hermanns Handeln
sind, alles ergibt einen Sinn. Es ist ebenso faszinierend, beim Lesen immer ein
lebendiges Bild der jeweiligen Gegend zu haben, da Zhadan, ohne in
Landschaftsmalerei zu verfallen, so genau zeichnet, dass man beispielsweise
meint, den ukrainischen Morgen in Woroschilowgrad genau riechen zu können.
Zhadan packt den gewillten Leser gleich in den ersten Sätzen und lässt ihn auch
mit dem letzten Satz noch lange nicht los.
Der deutschsprachige Titel des Romans hat
überraschenderweise nur mit einem Seitenthema dieses Buches zu tun, passt aber
sehr gut zur fast jazzigen Prosa des ukrainischen Autors, der nicht
umsonst zu den aufregendsten und kühnsten Stimmen der Ukraine gezählt wird.
Absolute Empfehlung.
(Roland Freisitzer; 11/2012)
Serhij Zhadan:
"Die Erfindung des Jazz im Donbass"
(Originaltitel "Vorosilovgrad")
Aus dem Ukrainischen von Juri Durkot und
Sabine Stöhr.
Suhrkamp, 2012. 394 Seiten.
Buch
bei amazon.de bestellen
Digitalbuch bei amazon.de bestellen