Sabina Bermann: "Die Frau, die ins Innerste der Welt tauchte"
Von der schwierigen
Auseinandersetzung mit "Standardmenschen"
In diesem Roman erzählt eine der erfolgreichsten Schriftstellerinnen Mexikos die
Geschichte eines uralten Familienbetriebs, nämlich einer Thunfischfabrik der
Familie Consuelo. Isabelle Consuelo hat sie geerbt und kommt nach langen Jahren
aus den USA zurück, um die Fabrik fortzuführen. Aus ihrer Perspektive wird die
Geschichte der Modernisierung der Fabrik dargestellt, um sich in einer
globalisierten Welt und einem völlig veränderten Weltmarkt behaupten zu können.
Doch da ist auch Karen Nieto, ein Findelkind, das gleich zu Beginn des Romans
eingeführt und beschrieben wird:
"Ein mageres Mädchen, in einem weiten, weißen T-Shirt, das im Wind flattert, mit
angewinkelten Beinen, die Knie gegen die Brust. Ein Mädchen, das gegen Wind und
Meer anflüstert
Ich.
Ich."
Da erhebt sich eine große Welle und bricht, und in dem Getöse weiß das Mädchen
nichts mehr von sich, verschwindet für sich, ist nicht mehr. Wo ist dieses Ich
geblieben? Dieses zerbrechliche Gebilde aus Worten hat sich verflüchtigt, und
ein gewaltiges Nicht-Ich hat seinen Platz eingenommen: das Meer.
Karen Nieto ist Autistin.
Sie verfügt über ein außergewöhnliches Gedächtnis
und zeichnet ganz hervorragend. Da ihr Intelligenzquotient sehr niedrig ist, landet sie in einer
Schule für geistig Behinderte. Irgendwann erkennt ihre Tante Isabelle, die sich
ihrer angenommen hat, ihre Begabung und stellt einen Privatlehrer für Karen ein,
der sie entsprechend fördert.
Für Sabina Berman ist Karen eine Art Gegensymbol
für eine Welt, die immer noch durch Descartes' Diktum "Ich denke,
also bin ich" geprägt ist, mit dem Karen in späteren Jahren so hart ins Gericht gehen wird,
dass sie sogar die Bücher des französischen Philosophen
und Mathematikers verbrennen möchte.
Die Figur, das Denken und das
Wesen von Karen Nieto sind eine literarisch gelungenen Kritik an dem
Standarddenken unserer Zeit, das im Roman durch zwei Männer,
denen Karen Nieto auf ihrem Weg begegnet, repräsentiert wird: Erstens der Wissenschaftler
Huntington, ein Spezialist für Schlachthöfe für "humanes Töten", bei dem Karen
studieren wird, und zweitens ein Mann namens Gould, der Karens geniale
Erkenntnisse zu Geld machen will.
Während und nach ihrem Zoologiestudium entwickelt Karen eine absolut
umweltverträgliche und stressfreie Fangmethode für Thunfische und rettet so
die Firma ihrer Tante Isabelle. Karen ist für Sabina Berman eine
Figur, mit deren Schilderung sie die Zerstörungskraft
instrumentellen Denkens entlarvt, das nur nach Erfolg, Anerkennung und Macht
giert. Dem stellt sie die Autistin Karen gegenüber, die in der Lage ist, einfach
zu sein, das Leben um sie herum, gerade auch das der nichtmenschlichen Natur,
wahrzunehmen und zu spüren.
"Die Frau, die ins Innerste der Welt tauchte" ist ein vielschichtiger
Roman, der Tierschützer ansprechen, aber auch verstören wird. Ein Roman, der
von eigenwilligen Frauen, die sich anders verhalten, als ihre Umwelt es
erwartet, erzählt. Ein Buch, das dem Leser die Augen für die
Vielschichtigkeit des Seins auf dieser wunderbaren Welt öffnen möchte.
(Winfried Stanzick; 01/2013)
Sabina Bermann: "Die Frau, die ins Innerste
der Welt tauchte"
(Originaltitel "La mujer que buceó dentro del corazón del mundo")
Aus dem Spanischen von Angelica Ammar.
S. Fischer. 304 Seiten.
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Sabina Berman kam 1955 in
Mexiko-Stadt zur Welt; sie ist die Tochter jüdischer Emigranten aus Osteuropa.
Schon während ihres Studiums der Psychologie begann sie mit dem Schreiben.
Seither hat sie zahlreiche Auszeichnungen für ihre Theaterstücke, Fernsehspiele,
Gedichte und Prosatexte bekommen, unter anderem viermal den mexikanischen
Nationalpreis für Theater.
"Die Frau, die ins Innerste der Welt tauchte" ist ihr
zweiter Roman und die erste Übertragung ins Deutsche.