Max Brod: "Jüdinnen"
... und andere Prosa aus den Jahren 1906-1916
Ein Schritt zum Zionismus und zu
literarischer Meisterschaft
Ein Versuch unter etwas mehr als einem halben Dutzend Personen mit
germanistischen, bibliothekarischen Interessen oder mit sonstiger literarischer Vorbildung:
Wer kennt Max Brod? Trefferquote 100
Prozent! Die meisten wissen natürlich
auch, dass er in Prag geboren ist und das Werk Franz Kafkas herausgegeben hat.
Wer kann ein Werk von ihm nennen? Hier wird es rasch dürr. War da nicht etwas
mit Tycho Brahe oder mit Galilei? Von den 1909 herausgegebenen "Jüdinnen", einem
seiner ersten Werke und einem Schlüsselwerk zur Biografie des Autors, wusste
niemand.
Auch wenn die Umfrage sicher nicht repräsentativ war, wirft sie Licht - oder
wohl eher Schatten - auf den Schriftsteller Max Brod. Sein eigenes literarisches
Schaffen ist im Vergleich zu seiner editorischen Tätigkeit der Werke seines
Freundes Franz Kafka und übrigens auch des Komponisten Leoš Janáček in den
Hintergrund gerückt.
"Jüdinnen" nimmt eine gesellschaftliche Struktur vorweg, die der glich, in der
Max Brod 1968 in Tel Aviv starb: Der Text spielt in einer rein jüdischen
Gesellschaft, wie es sie vor mehr als 100 Jahren im nordböhmischen Kurort
Teplitz (Teplice) vielleicht noch gab. Freilich ist jedes literarische Werk auch
eine Konstruktion. Zu dieser konstruierten Gesellschaft gehört der Gymnasiast
Hugo, der sich in die gesellschaftlich hochstehende, aber kapriziöse Irene mit
undurchschaubarer Vergangenheit und stets wechselnden Absichten und Vorlieben
verliebt. Am anderen Ende der Skala weiblichen jüdischen Lebens stehen Hugos
verwitwete Mutter, die in Teplitz eine Pension betreibt, und Olga, ein jüdisches
Mädchen vom Lande, das im Haushalt dieser Pension mithilft und sich dabei eine
gute Partie erhofft, vielleicht eine Heirat mit Hugo.
In den Gesprächen der namensgebenden Jüdinnen geht es implizit immer und oft
auch explizit fast nur um ein Thema: Wie und wo findet sich ein respektabler,
selbstverständlich jüdischer Gemahl für die mannbare Tochter? In der Tradition
englischer Baderomane wie z.B. der rund 100 Jahre zuvor geschriebenen Werke von
Jane Austen und Walter Scott findet sich kaum Handlung außer Gespräch. Wie in
einer Vorwegnahme der Theorie des kommunikativen Handelns (Jürgen Habermas) ist
jeder Sprechakt absichtsvolles Handeln.
"Jüdinnen" steht am Beginn von Max Brods erwachendem Interesse am Judentum und
später auch am Zionismus. Assimilierung und Ehen mit nichtjüdischen Partnern
lehnte er entschieden ab. Dennoch ist dieser Roman nicht positives Modell eines
monoethnischen Lebens unter Juden. (Brod betrachtete das Judentum in seinen
Worten als "Volkstum", nicht als Religion.) Vielmehr zeigt es standesbewusste
Verirrungen in Oberflächlichkeiten. Die Suche nach geeigneten Schwiegersöhnen
vernebelt den Blick auf Bleibendes.
Brod selbst hielt dieses Werk in der Rückschau 1921 für sein bestes,
"weil die gereiftere Erfahrung darin nichts mehr von fantastischen Konstruktionen erborgen
musste, und weil es mir gelungen zu sein scheint, aus alltäglichen Vorgängen
Steigerungen bis in die heroische Sphäre empor zu erzielen." (Zitat nach dem
Nachwort von Hans Dieter Zimmermann, Seite 336.) Aus gegenwärtiger, vielleicht zu
sehr an reißerische Handlungsverläufe gewöhnter Sicht passiert im Roman so gut wie nichts. Es wird
geredet ... und geredet ... und geredet ... natürlich auch ge- und vor allem
verschwiegen.
Die für heute zwar ferne, aber damals realitätsnahe Zusammenstellung ausnahmslos
jüdischer Protagonisten erschließt eine psychologische Wirklichkeit der
wortreichen Meinungsbildung, ein lesenswertes Panoptikum jüdischer Lebenswelten
im Mitteleuropa der Wende zum 20. Jahrhundert, das sich für alle, vor allem aber
für Juden, furchtbar erweisen sollte.
(Wolfgang Moser; 05/2013)
Max Brod: "Jüdinnen
Mit einem Vorwort von Alena Wagnerová.
Herausgegeben von
Hans-Gerd Koch und Hans Dieter Zimmermann
in Zusammenarbeit mit Barbora Šrámková und Norbert Miller.
Wallstein Verlag, 2013. 344 Seiten.
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Max Brod (1884-1968) war vor und
nach dem
Ersten Weltkrieg einer der bekanntesten Vertreter der Prager
deutschsprachigen Literatur, heute ist er vor allem als Herausgeber der Werke
seines Freundes Franz Kafka berühmt.
Ein weiteres Buch des Autors:
"Tycho Brahes Weg zu Gott"
Mit einem Vorwort von Stefan Zweig.
Die moderne Naturwissenschaft beginnt nicht nur im Florenz Galileis, sondern
auch im Prag Rudolfs II. Der katholische Kaiser zog den dänischen Astronomen
Tycho Brahe und den deutschen Johannes Kepler an seinen Hof: Zwei Protestanten,
zwei Vertriebene, die in Prag Zuflucht fanden. Es war eine glückhafte Begegnung,
die kaum ein Jahr dauerte und mit Brahes rätselhaftem Tod endete. Die genauen
Beobachtungen und Berechnungen Brahes bildeten die Grundlage für Keplers Werk
über die Planetenbahnen, das bis heute unser Weltbild bestimmt.
Max Brod bietet in seinem ersten und bekanntesten historischen Roman von 1915,
den er seinem Freund Franz Kafka widmete, ein großartiges Panorama der Zeit um
1600 und eine intensive Darstellung der beiden unterschiedlichen Charaktere.
Vorbild für die Figur des Johannes Kepler war Albert Einstein, den Max Brod
kennenlernte, als er an der Prager Universität lehrte. (Wallstein) zur Rezension ...
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