Martin Meyer: "Albert Camus"
Die Freiheit leben
Camus: Ein Leben für Freiheit
und Verantwortung
In der deutschsprachigen
Literaturkritik ist es ruhiger geworden. Doch am zumeist stillen Zürichsee wirkt
mit Martin Meyer ein Feuilletonist, der zu den Großen dieser Zunft zu zählen
ist. 21 Jahre lang Feuilletonchef bei der "NZZ" zu sein, legt ein breites
kulturelles Fundament, auf dem eine Monografie einen soliden Halt bekommt. Wie
der Autor in der Sendung "Sternstunde Philosophie" des Schweizer Fernsehens
bekundete, begleitet ihn ein langjähriges persönliches Interesse an Camus, das,
wie man anerkennen muss, mit einer profunden Werkkenntnis einhergeht.
Das große philosophische Thema
im Leben und Wirken Albert Camus' ist die Freiheit. Wenn man in einer Welt lebt,
die mit religiösen und politischen Systemen und Idealen durchzogen ist, wenn
binnen weniger Jahrzehnte zwei Weltkriege den Kontinent verwüsten, wenn
Ideologien in Stellung gehen, Faschismus, Sozialismus, Bolschewismus, wenn
christliche Heilsversprechen irdisches Leid rechtfertigen und kommunistische
Salonkommunisten über die Notwendigkeit des Gulag schwadronieren, dann hat es
ein aus dem Armenviertel Algiers stammender Tbc-kranker Verfechter der
individuellen Freiheit schwer. Insbesondere wenn er auch noch dem Pariser rive
gauche das Ideal der Einfachheit predigt.
Die Freiheit ist, so Meyer, ein
Leitbegriff: "Sie wird zur Lösung für den Einzelnen, sich seiner Chancen ohne
Furcht vor den übermächtigen Instanzen - heißen sie Gott, nennen sie sich die
Geschichte - mit Selbstbewusstsein zu versichern", ist im Vorwort zu lesen. Das
Buch verstehe sich "als Lesekompass und vergegenwärtigt dabei die
Herausforderungen, die in Camus' Oeuvre teils offener, teils verdeckter angelegt
sind. [...] Wenn Camus' Aktualität wie seine Kunst jenseits der Zeiten im Jahr
seines hundertsten Geburtstags erneut transparent werden, hat es sein Ziel
erreicht."
Man verbindet heute unter
Anderem mit Camus auch den Begriff des Absurden. Das Absurde steht für das von
objektiv-planlosen, subjektiv-spontanen Ereignissen bedrohte Leben. "Das Absurde
kann jeden beliebigen Menschen an jeder beliebigen Straßenecke anspringen",
formulierte Camus. Was ist wohl absurder, als dass ein junger Autor mit einem
Bahnticket in der Tasche zu seinem Verleger ins Auto steigt und auf einer
kerzengeraden Route Nationale an einem Baum landet? Autor tot, Verleger tot, ein
Manuskript überlebte. Das war 1960. Zweieinhalb Jahre zuvor hatte man Camus in
Stockholm den Literaturnobelpreis verliehen, "for his important literary
production, which with clear-sighted earnestness illuminates the problems of the
human conscience in our times", wie das Nobelkomitee berichtete.
Die theoretische Grundlage des
Absurden wird in "Der Mythos des Sisyphos" behandelt. Darin beginnt Camus mit
dem "apodiktischen Paukenschlag", wie Meyer schreibt, "Es gibt nur ein wirklich
ernstes philosophisches Problem: den Selbstmord." Danach ordnet Camus ein:
"Sich
entscheiden, ob das Leben es wert ist, gelebt zu werden oder nicht, heißt auf
die Grundfrage der Philosophie antworten." Alles Andere, ob sich die Erde um die
Sonne dreht oder umgekehrt, sei sekundär. Die Lücke zwischen Anspruch und
Lebenswirklichkeit könne jeder erfahren. Man kann diese Lücke zusammen mit dem
Leben annehmen, akzeptieren, oder man kann sich dieser Erkenntnis durch den
"Sprung" in die Metaphysik entziehen, so Camus. Heute lautet hierfür die
griffige Formel: Das Leben ist nichts für Feiglinge. Camus' Texte sind das übrigens auch
nicht.
Das Absurde existiert im
Übrigen nicht an sich, es entsteht vielmehr in dem Moment, in dem der Mensch der
Unzulänglichkeit des Lebens gewahr wird. Das Absurde existiert nur als
persönliche Erkenntnis im Betrachter und verschwindet am Ende mit ihm.
Im letzten Essai des Buches
"Der Mythos des Sisyphos" kommt Sisyphos selbst ins Spiel, der auf dem Abstieg
vom Berg von der Erkenntnis ergriffen wird, "dass sein Schicksal das menschliche
par excellence ist", wie der Autor schreibt, und es als solches annimmt. Camus
formulierte das so: "Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen.
Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen." Man kann
einwenden, das Beispiel sei nicht gut gewählt, und Sisyphos handele nicht klug,
er solle sich vielmehr darüber Gedanken machen, ob er den Stein nicht unter
Zuhilfenahme von physikalischen Ansätzen auf dem Gipfel sichern könne. Doch die
Strafe des Sisyphos ist eine göttliche Maßnahme, aus der keine Physik einen
Ausweg weiß: Es bleiben im Prinzip nur unnützer Widerstand und Kapitulation;
doch ausnahmsweise gilt hier, dass es doch ein Drittes gebe: Camus' Sisyphos
rollt den Stein hinauf und pfeift dabei ein Liedchen. Meyer schreibt hierzu:
"Was
als Strafe ersonnen war, dreht sich mit subtil revoltierender Ironie ins
Gegenteil - in die Einwilligung ins Unvermeidliche." Das ist der Kern des
Sisyphos-Mythos. Wenn man Imre Kertész' KZ-Schilderungen liest, so schimmert
stellenweise dieser Sisyphos durch.
Verweilen wir noch einen
Augenblick bei einem weiteren beeindruckenden Stück Weltliteratur. "Die Pest"
handelt von einer algerischen Küstenstadt, in der plötzlich die Ratten aus der
Kanalisation steigen und in Straßenrinnen und Hauseingängen sterben. Nach den
Ratten sterben die Menschen. Ein rundes Dutzend verschiedenster Lebenslinien
führt die Pest in dieser Erzählung zusammen. Einen Arzt, der die Seuche bekämpft;
einen Politiker, der sie zuerst einmal abstreitet; einen Priester, der sie als
Strafe Gottes rechtfertigt, am Ende aber doch aufhört zu predigen und anfängt zu
helfen. Letztlich wird die Pest besiegt, und das Leben setzt wieder ein. In einer
späteren Schauspielvariante des Stoffs weicht die darin durch einen Schauspieler
verkörperte Pest am Ende, kündigt jedoch an, eines Tages die Ratten wieder
loszuschicken. Das Absurde, da lauert es wieder, inmitten von Kriegsmetaphern,
im Gewand der
Seuche.
Der politische Camus ist
vielleicht der bedeutendste. Die Freiheit auf dem Schilde, kämpfte er
journalistisch gegen die Nazis und vor allem gegen die Kollaborateure auf
französischer Seite, zeitweise auch im Untergrund. Und als nach dem Kriege
Russland sich anschickt, das Barbarentum der Nazis unter neuer Flagge
fortzuführen, klagte er den Stalinismus in ebensolcher Schärfe an wie vorher den
Nationalsozialismus. Dass er sich damit gegen die Pariser Kommunisten um Sartre und Beauvoir stellte, hielt ihn nicht davon ab. Doch den Kampf gegen Sartre und
seine Entourage konnte Camus nicht gewinnen. Und selbst heute verhinderte eine
oft in Sartres Fußstapfen tretende intellektuelle Linke in Frankreich Camus'
Wiederentdeckung. Die Sartre-Kritik Martin Meyers kommt nicht so wortgewaltig
daher wie beispielsweise die Michel Onfrays, doch das liegt einfach an dem
professionell-distanzierteren, sachlicheren Stil Meyers. Man wünscht sich, dass
in Frankreich Camus und Sartre neu gelesen werden.
In einem separaten Kapitel
führt der Autor durch die neun überlieferten Tagebücher, die Cahiers. Diese
seien weniger minutiöses Tagebuch, als vielmehr "hauptsächlich das Journal der
Arbeit und der Reflexionen über Seinszustände". Dennoch benutzt Martin Meyer sie
als Leitfaden für einen biografisch-thematischen Exkurs durch die Themen der
Hefte und die Umstände ihrer Entstehung. Neben den großen thematischen Kapiteln
bildet dieser mit "Spiegelbild im Tagebuch" betitelte Abschnitt eine
biografische Klammer.
Große Literatur und kluge
Analysen hinterließ Camus. Und Martin Meyer ist ein überaus kompetenter Bote des
Camusschen Geistes. Am meisten beeindrucken seine Synopsen und Analysen der
Romane und Erzählungen. Selbst wenn man Camus' Texte noch recht frisch in
Erinnerung hat, beginnt man an einigen Stellen über einzelne Aspekte der
jeweiligen Texte erneut nachzudenken. Ein Werkregister erleichtert hier auch die
spätere Rückschau. Ein Personenregister ist bei biografischen Werken zwar
sinnvoll, doch in diesem Buch schmerzt der Verlust nicht allzu sehr.
Im deutschsprachigen Buchhandel ist
eine erfreuliche Reihe an Camusscher Primärliteratur verfügbar, die in der
vorliegenden Monografie auch referenziert wird. Dort, wo keine deutschsprachigen
Ausgaben existieren, verweist Meyer auf die betreffenden Stellen der großen
vierbändigen bei Gallimard erschienenen Pléiade-Ausgabe. Am Ende bleiben
insbesondere bei Pléiade-Bezügen doch einige unübersetzte Zitate, die ein nicht
mehr ganz frisches Schulfranzösisch schnell überfordern.
Albert Camus' Geburtstag jährt
sich zum einhundertsten Mal, und es erschienen im August und September 2013
gleich drei deutschsprachige Monografien auf dem Markt. Und um es
vorwegzunehmen: Man sollte sie eigentlich alle drei lesen, auch wenn man damit
eine Zeit lang beschäftigt ist. Doch Camus ist es wert, auch die vielen Randthemen
Algerien, Besatzung in Paris, Resistance, Kollaboration und die Rolle der
französischen Linken in dieser Zeit lohnen die zeitliche Investition.
Albert Camus auf dreihundert
Seiten so umfassend zu präsentieren, ist schon beachtenswert. Neben den eingangs
genannten Tugenden des großen feuilletonistischen Fundaments und der umfassenden
Werkkenntnis verfügt der Autor auch über die Kunst des vollendeten Stils. Und so
muss man sich am Ende den Leser dieses Buches als einen zufriedenen Menschen
vorstellen.
(Klaus Prinz; 10/2013)
Martin Meyer: "Albert Camus. Die Freiheit
leben"
Hanser, 2013. 368 Seiten.
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