Mário de Andrade: "Macunaíma"
Der Held ohne jeden Charakter
Ein unvergesslicher
Schelm
Mário de Andrades 1928 erstveröffentlichter Roman "Macunaíma - der Held ohne
jeden Charakter" ist einer der wichtigsten, wenn nicht gar der wichtigste Roman
der Moderne in Brasilien. Mit der Verspätung eines halben Jahrhunderts wurde er
in den 1970er-Jahren erstmals in deutscher Sprache bei Suhrkamp verlegt. Die
hier vorliegende Ausgabe ist eine Neuauflage in neu gestalteter Aufmachung. Die
Übersetzung von Curt Meyer-Clason wurde glücklicherweise nicht revidiert.
Wer ist nun dieser Macunaíma, der die Seiten dieses vor irrwitzigen Ideen und
teilweise unverständlichen Passagen strotzenden Romans unsicher macht? Er ist
sowohl gut, als auch böse. Er ist verlogen und gutmütig, leichtgläubig und feig.
Er ist auch ein unverhältnismäßig mutiger Gauner, der witzig, geistreich und
komisch ist. Ein Held, dem man einerseits mit Bewunderung entgegentritt, dem man
aber auch mit milde lächelnder Nachsicht verzeihen will, wenn er sich wieder
einmal unschön verhält.
"Tief im
Urwald wurde Macunaíma geboren. Held unseres Volksstamms. Er war
pechschwarz und Sohn der Nachtangst. Es gab einen Augenblick, da war die Stille,
wenn man das Murmeln des Uraricoera hörte, so tief, dass die Indiofrau der
Tapanhumas ein hässliches Kind gebar. Dieses Kind nannten sie Macunaíma."
Wer eine realistisch aufgebaute Geschichte mit einer traditionellen Dramaturgie
sucht, ist bei diesem Roman besonders schlecht aufgehoben. Es ist ein Text, der
ständige Aufmerksamkeit fordert, der vor allem ein barrierefreies, offenes Lesen
fordert, da man sich sonst in den permanenten Verästelungen dieses literarischen
Urwalds hoffnungslos verlieren kann.
Bereits die ersten Jahres Macunaímas sind für seine Mitmenschen nicht leicht,
die ersten Worte spricht der Bengel mit sechs Jahren, und was er dann spricht,
ist: "Ach! Diese Faulheit!" Er ist gefräßig und faul. Aber auch ein
unermüdlicher Lüstling. Er verführt die Geliebten seines Bruders und geht doch
hin und wieder auf die Jagd. Auf einer solchen erschießt er zufällig seine
Mutter, die er wegen eines Zaubers für eine Hirschkuh hält. Nach einer Zeit der
Trauer zieht Macunaíma mit seinen Brüdern und der Freundin seines Bruders, der
schönen Iriqui, die sich fortwährend schminkt, fort. Hinaus in die weite Welt.
Im Urwald begegnen sie der Mutter des Urwalds, die zum Stamm der Icamiabas, den
sagenhaften Amazonenkriegerinnen des Regenwalds, gehört, erkennbar an ihrer
flachen und dürren rechten Brust. Macunaíma will sie verführen, was ihm zuerst
nicht gelingt. In einem Kampf, den er bereits verloren glaubt, kommt ihm sein
Bruder zu Hilfe, woraufhin er sie vergewaltigen kann und somit zum Kaiser des
Waldes wird. Sie leben nun zusammen.
Während Ci täglich mit den Frauen in Schlachten zieht, ruht sich Macunaíma den
ganzen Tag über für die nächtlichen Liebesspiele aus. Nichtsdestotrotz
überwiegen seine Müdigkeit und Faulheit, was Ci veranlasst, ihm helfend mit
einer Brennnessel zwischen die Beine zu fahren und ihn so zu wecken. Bald ist
ein Sohn da, der allerdings durch Schlangengift getötet wird.
Ein Glücksstein ist das Letzte, was ihm Ci schenkt, bevor sie an einer Liane
empor in den Himmel steigt, um der Stern Beta Centauri zu werden. Ab hier ist
der Stein der rote Faden, der durch die folgenden Abenteuer dieses Romans führt.
Zuerst im Kampf mit einer Wasserschlange verloren, erfährt Macunaíma von einem
Vogel, dass der Stein gefunden und im Besitz eines peruanischen Händlers sei.
Beim Baden verliert Macunaíma später seine Hautfarbe und wird weiß, blond und
blauäugig.
Verschiedene Reisen, Abenteuer, Erfolge und Misserfolge säumen den Weg Macunímas,
der am Ende die Lust an der Welt verliert und selbst auf einer Luftliane in den
Himmel steigt. Auch er wird, nach anfänglicher Verwirrung, zu einem Sternenbild,
dem Großen Bären.
All dies erfährt der Autor Mário de Andrade, als sich ihm ein
Vogel auf die
Schulter setzt und die Geschichten Macunaímas erzählt.
"Macunaíma" ist ein großartiges Beispiel einer Literatur, die sich bewusst auf
die eigene Folklore besinnt und der europäischen Literatur etwas gänzlich
Eigenständiges und Andersartiges entgegensetzt. Mythologie, Dichtung, Roman und
Romanze, alles ist hier im Streben danach, einen urtypisch brasilianischen
Charakter zu schaffen, vereint. Sehr viele Begriffe, die hier im brasilianischen
Portugiesisch eingestreut sind, sind laut Anweisung des Autors nicht übersetzt,
da er sie teilweise aus rein farblich-klanglichen Gründen so gesetzt und
modifiziert hat, sodass eine Übersetzung der Halbfantasiebegriffe eine unnütze
und irreführende Angelegenheit wäre.
Die Qualität der Übersetzung kann hier eigentlich gar nicht genug gewürdigt
werden, es ist einfach schier unfassbar, dass Curt Meyer-Clason es geschafft
hat, die urwüchsige und genialische Welt von Mário de Andrade und seinem
Macunaíma so ins Deutsche zu übersetzen, dass man beim Lesen die Gerüche und
Hitze des Urwalds am eigenen Leib spürt. Auch ein wirklich informatives Nachwort
und ein sehr hilfreicher Glossarteil sind Bestandteil dieses großartigen Buches,
das man zu den wirklich erfreulichen Veröffentlichungen 2013 zählen darf.
Absolute Empfehlung.
(Roland Freisitzer; 12/2013)
Mário de Andrade: "Macunaíma. Der Held ohne
jeden Charakter"
(Originaltitel "Macunaíma, o herói sem nenhum caráter")
Aus dem brasilianischen Portugiesisch
übersetzt von Curt Meyer-Clason.
Suhrkamp, 2013. 219 Seiten.
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Mário de Andrade wurde 1893 in
São Paulo (Brasilien) geboren. Nach dem Abitur besuchte er das Konservatorium
seiner Geburtsstadt, an dem er 1917 sein Diplom als Klavierlehrer erhielt. Ab
1935 war er als Kulturpolitiker in São Paulo tätig, wo er eine Reihe von
Institutionen wie die Stadtbibliothek oder das Kulturamt gründete. 1938 wurde er
Direktor des Instituts für Bildende Künste in Rio de Janeiro. 1939 ernannte man
ihn zum Leiter des Instituto Nacional do Livro, des brasilianischen
Buchinstituts. Ab 1942 lebte er wieder in seiner Geburtsstadt als Leiter des
Serviço do Patrimônio Histórico, der Verwaltung des nationalen Kulturerbes.
Zu seinen bekanntesten Werken gehören die Lyriksammlungen "Paulicéia Devairada"
("Verrückte Paulodyssee") von 1922 und "Losango Cáqui"
("Khakifarbene Raute") von 1926.