Frank Lorenz Müller: "Der 99-Tage-Kaiser"
Friedrich III. von Preußen: Prinz, Monarch, Mythos
Friedrich III. und der Mythos
der anderen Geschichte
In Werken zur deutschen Geschichte im späten 19. Jahrhundert, in denen Friedrich
Wilhelm, der spätere Friedrich III., allenfalls als Nebenfigur auftaucht, kann
man wirklich den Eindruck gewinnen, er sei, eingeklemmt zwischen Vater und Sohn,
deren liberales Komplement gewesen, dem bedauerlicherweise nur Lebenszeit und
Gelegenheit fehlten, Preußen und somit Deutschland nachhaltig zu modernisieren.
Wenn von dem ewigen Kronprinzen Friedrich Wilhelm und 99-Tage-Kaiser die Rede
ist, dann meist in Form eines Konditionalsatzes.
Schon im zweiten Absatz der Einleitung kommt der Autor auf die aus heutiger
Sicht vielleicht zentrale Frage, wie sich der Welten Lauf wohl verändert hätte,
wenn Friedrich III. dieselbe Langlebigkeit wie sein Vater entwickelt hätte.
Würde Preußen sich nach englischem Muster liberalisiert haben? Hätte dann gar
... - den Rest dieser Konditionalsätze kann sich jeder selbst ausmalen. Müller
schreibt: "In dem vorliegenden Werk wird es darum gehen, die dieser
Sichtweise zugrunde liegenden Legenden auf ihren Realitätsgehalt hin zu
untersuchen, sich mit den Wurzeln der Mythen zu beschäftigen und nach den
Gründen für ihre Popularität und Langlebigkeit zu fragen."
Preußen(tum), Kaisertum, Absolutismus. Das alles sind klare Begriffe, die sich
seit dem 19. Jahrhundert nicht mehr veränderten. Aber Sozialismus, Liberalismus
und Kommunismus beschreiben gesellschaftliche Entwürfe, die einer enormen
Dynamik unterliegen. Die Gefahr einer grundsätzlichen Fehlinterpretation der
Prozesse des 19. Jahrhunderts liegt nun darin, diese bereits damals
gebräuchlichen Begriffe den Deutungsmustern der heutigen Zeit zu unterwerfen.
Die liberale Prägung Friedrich Wilhelms begann mit seiner Mutter Augusta, die
dem doch vergleichsweise weltoffenen Herzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach
entstammte. Ein weiterer Einfluss ist auf Prinz Albert von England
zurückzuführen, einen Spross des Hauses Sachsen-Coburg und Gotha. Albert war
nämlich der Schwiegervater Friedrich Wilhelms und übte sowohl direkten, als
auch indirekten Einfluss über seine Tochter aus. Dieser Liberalismus war
Bismarck natürlich zutiefst zuwider.
Man muss diesen Liberalismus aus der Nähe betrachten und
klar auf die Verhältnisse in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beziehen.
Im Kulturkampf lag er mit Bismarck und den Konservativen auf einer Linie.
Bismarcks Sozialistengesetze "gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der
Sozialdemokratie" unterstützte er, denn die Sozialisten produzierten
"phantastische Irrlehren", die eine "ungeheuere Gefahr" darstellten. Selbst
Bismarcks Unfallversicherung lehnte er rundweg ab, denn er fürchtete, der
Arbeiterstand werde "lüstern gemacht nach Staatshilfe". Er hielt das für ein
leichtsinniges "Anfachen soz.democr. Feuers". Auch die Kolonialpolitik
unterstützte Friedrich Wilhelm. Der britische "The Eonomist" vermutete,
"er sei
nur so lange ein Liberaler, wie er Kronprinz sei; sobald er Kaiser sei, [...]
werde er sich als wahrer Hohenzollern erweisen." Auch dem Militär blieb er zeit
seines Lebens eng verbunden, wenngleich er den Krieg nach 1871 negativ
einschätzte. Aber dass das Parlament in militärischen Dingen mitreden solle, kam
für ihn nicht in Frage, auch nicht hinsichtlich des klassischen Haushaltsmandats
des Parlaments. Er vertrat eine konstitutionelle Monarchie, aber keine
parlamentarische, wie sie in England vorherrschte. Dafür sei Deutschland noch
nicht reif, betonte er.
Sein Rollenverständnis eines Monarchen scheint eher dem Mittelalter zu
entstammen als der Schwelle zur Moderne. Er führte die Kaisertradition der
Hohenzollern auf die Kaiser des Heiligen Reiches Deutscher Nation und zu Karl
dem Großen zurück. Das manifestiert sich auch in seiner Nummerierung, denn er
wollte als Friedrich IV. die Reihe nach Kaiser Friedrich III. fortsetzen.
Bismarck riet ihm, an König Friedrich II. anzuschließen und sich somit Friedrich
III. zu nennen. Bismarck bemerkte zudem treffend, dass er schon merken, werde,
"dass die Rechte des Volkes nur auf Kosten der monarchischen Macht gestärkt
werden können, und dann würden 'alle liberalen Theorien verschwinden, wie Nebel
vor der Sonne'."
Friedrich Wilhelm einen Liberalen heutigen Sinnes zu nennen, wäre weit gefehlt.
Doch im Vergleich zu den erzreaktionären preußischen Kreisen liegt die Sympathie
des Betrachters schon eindeutig bei ihm, was angesichts der Antipoden Wilhelm I.
und Bismarck auch nicht weiter verwunderlich ist.
Die Liberalen, egal, ob Politiker oder Publizisten, versuchten Friedrich zu
Lebzeiten und darüber hinaus als Schutzheiligen, wie Müller an einer Stelle
schreibt, für ihre Sache einzuspannen. Dem wirkten nun die Konservativen in
Regierung und Presse nach Kräften entgegen. Das Volk wiederum war gerne bereit,
in Friedrich Wilhelm, ihrem "Fritz" einen Monarchen nach Wunsch zu sehen, selbst
Anleihen bei Lohengrin wurden gemacht.
Eine ganze Reihe "Wenns" drängt sich förmlich auf.
Hätte Friedrich eine Chance gehabt, wenn nicht Bismarck
Kanzler gewesen wäre? Oder: Wenn sich Wilhelm nicht mehr nach seinem Vater und
weniger nach seinem Großvater orientiert hätte? Und am Ende all dieser "Wenns"
steht die unvermeidliche Frage, ob uns dann der Erste Weltkrieg und Hitler erspart geblieben wären? Oder zumindest nur Hitler?
Verständliche Fragen, aber höchst unersprießlich.
Ein Kritiker schrieb einmal treffend, Friedrich Wilhelm habe Glück gehabt, dass
er aufgrund der Langlebigkeit seines Vaters die in ihn gesetzten Erwartungen
nicht habe einlösen müssen. Der Autor drückte dieses Dilemma so aus: "Dies
ist die Tragödie seines Lebens: Wenn man sich heute überhaupt an Friedrich III.
erinnert, dann dessentwegen, was er womöglich getan hätte, aber niemals zu
erreichen in der Lage war."
Wenn der Autor nun vor dem Hintergrund der Lebensgeschichte
des ewigen Kronprinzen und späteren Dreimonatskaisers diese modernen bürgerlichen Strömungen in ihrem historischen Kontext freilegt, so hat man
auch eine politische Ideengeschichte des späten 19. Jahrhunderts vor Augen. Und
das ist neben der Vita Friedrichs III. der eigentliche Gewinn dieser
vortrefflichen Biografie.
(Klaus Prinz; 05/2013)
Frank Lorenz Müller: "Der 99-Tage-Kaiser.
Friedrich III. von Preußen: Prinz, Monarch, Mythos"
(Originaltitel "Our Fritz. Emperor Frederick III and the Political Culture
of Imperial Germany")
Übersetzt von Sibylle Hirschfeld.
Siedler, 2013. 461 Seiten.
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Frank Lorenz Müller, geboren 1970, ist Professor für Neuere Geschichte an der Universität St.Andrews in Schottland. Er studierte in Berlin und Oxford Geschichte und Anglistik und promovierte mit einer Arbeit über die deutsch-britischen Beziehungen vor der Reichsgründung. In seinen zahlreichen Veröffentlichungen hat er sich mit der Revolution von 1848/49 befasst, mit dem Nationalismus, Imperialismus und der Monarchie im 19. Jahrhundert.