Christian Haller: "Der seltsame Fremde"
Danteske Visionen und
reale Höllenkreise
Clemens Lang, ein Fotograf von Mitte vierzig mit hohem Anspruch an sich selbst,
dem jedoch der große Durchbruch noch nicht gelungen ist, erhält eine Einladung
zu einer Fachtagung in einer exotischen Metropole - die vom Autor nicht genauer
benannt wird und offensichtlich irgendwo im Orient liegt -, für die er eine
Präsentation seiner fotografischen Arbeiten zusammenstellen soll. Der Aufenthalt
soll zudem laut Einladung zur Erstellung eines Portfolios mit dem Thema "Die
Stadt und ihre Bewohner" dienen.
Lang ergreift diese
Gelegenheit sofort beim Schopf. Zu seinem Bedauern kann seine Lebensgefährtin,
eine Astrophysikerin mit enormem Faible für Dantes "Göttliche Komödie", nicht mit
ihm reisen; und er reist ungern ohne Begleitung. Doch schon am Flughafen gesellt
sich ihm ein Begleiter zu, der etwas Mephistophelisches hat, oder ist er etwa
der "Göttlichen Komödie" entsprungen? Denn je nachdem, in welchem Kontext er
auftaucht - und das geschieht während der Reise sehr häufig -, erinnert er Lang
an unterschiedliche Persönlichkeiten aus seinem eigenen Bekanntenkreis, die
Einfluss auf ihn hatten: vor allem an seinen früheren Mentor Grünfeld, der ihn
geprägt und, wie er nach und nach erkennt, auch intensiv manipuliert hat.
Der Aufenthalt entwickelt
sich regelrecht zu einer Reise durch Dantes Höllenkreise; und dies nicht etwa,
weil Lang erkennen muss, dass man ihn aufgrund einer Namensähnlichkeit mit einem
ungleich bekannteren Fotografen irrtümlich eingeladen hat. Beim Streifen durch
die Stadt mit dem gewaltigen Wohlstandsgradienten, von protzigen Villen
Neureicher und Mächtiger über die Slums der Landflüchtigen bis hinab zum
tiefsten Elend eines auf dem Mittelstreifen einer mehrspurigen Straße
ausgesetzten Säuglings.
Wesentliches Thema des Romans ist die Wandlung des Clemens Lang, dem es
allmählich ganz von selbst gelingt, seine Distanz zu allem, was ihn umgibt, aber
auch zu sich selbst und der von ihm geliebten Frau, aufzugeben und eine neue
Sichtweise auf die Dinge zu entwickeln: nicht als neutraler, unbeteiligter
Beobachter, sondern von innen, aus sich selbst heraus. Nicht mehr er findet die
Motive, sondern die Motive fordern ihn auf, fordern ihn heraus, fordern ihn als
Menschen.
Sicht- und
Betrachtungsweisen sind es auch, mit denen sich der Leser auseinandersetzen
muss. Der Autor präsentiert in lebendiger, wahrlich anschaulicher Sprache viele
Bilder: Fotos, die Clemens Lang für seine Präsentation ausgewählt hat, und
solche, die er in der fernen Metropole aufnimmt, bisweilen in rasanter Folge,
einem Staccato gleichend; unwillkürlich macht sich der Leser ein Bild von diesen
Bildern, die er nie real zu sehen bekommen wird. Und Haller zaubert kraft der
Macht seiner Erzählung weitere Bilder, von den Orten, die Lang berührt, ob in
der Gegenwart oder in Form von Rückblenden, und nicht zuletzt von seinem
rätselhaften Begleiter, der auf Fotos niemals zu sehen ist und sich wahrhaftig
als seltsamer Fremder erweist, obwohl dies eigentlich der Name ist, den Mentor
Grünfeld bei der ersten Begegnung Clemens Lang verliehen hat. Der Begleiter, der
behauptet, von Beruf Causeur zu sein, weist Lang immer wieder auf andere
Perspektiven, Standpunkte und Betrachtungsweisen genau dieser Bilder aus
Gegenwart und Vergangenheit hin, eine wunderbare, geistvolle Verquickung von
fotografischer mit Sinnes- und psychischer Wahrnehmung, ein Spiel mit Schein und
Sein. Und der Leser wandert mit Clemens Lang durch die danteschen Höllenkreise und endet - bei sich selbst, sofern er den Mut hat, mit dem Protagonisten den
vom Autor vorgezeichneten Weg zu gehen und seine Fremdheit in der Welt
aufzugeben.
Ein enorm starker Roman,
immer wieder auch verstörend, vielschichtig, grellfarbig, kontrastreich, von
sprachlicher Schönheit und Klarheit, den zu lesen sich unbedingt lohnt, weil er
den Blick und die Wahrnehmung weitet, gerade auch hinsichtlich der tiefen
Abgründe des scheinbar strahlenden Seins.
(Regina Károlyi; 02/2013)
Christian Haller: "Der
seltsame Fremde"
Luchterhand Literaturverlag, 2013. 381 Seiten.
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