Abraham B. Jehoschua: "Spanische Barmherzigkeit"
Eine Filmretrospektive mit Folgen
Der Name des 1936 geborenen israelischen Schriftstellers Abraham B. Jehoschua
ist im deutschsprachigen Raum nicht unbedingt ein allgegenwärtiger Begriff.
Leider. Seine Liste bereits erschienener Bücher, bei Piper verlegt, auf der sich so großartige Romane
wie "Der Liebhaber", "Die Passion des Personalbeauftragten" und "Freundesfeuer"
befinden, ist fast nur mehr im gut sortierten Antiquariat zu haben.
Sein Roman "Spanische Barmherzigkeit" stellt einen alternden Regisseur in den
Mittelpunkt des Geschehens, Jair Moses, der zu einer Retrospektive seiner Filme
nach Santiago de Compostela eingeladen ist, wohin er mit der Hauptdarstellerin
seiner frühen Filme, der auch schon älteren, aber noch immer bezaubernden Ruth,
reist. Die beiden teilen sich ein Zimmer, wie auch sonst vieles im Leben, ohne
sich gegenseitig zu irgendetwas verpflichtet zu sein.
Überraschend für Moses, konzentriert sich die Retrospektive hauptsächlich auf
seine frühesten Filme. Filme, die er noch mit seinem ersten Drehbuchautor und
ehemaligen Liebhaber Ruths gedreht hatte. Eine Zusammenarbeit, die wegen einer
am Ende herausgeschnittenen Szene geendet hatte, in der Ruth einem Bettler am
Straßenrand die Brust geben sollte. Nach Einspruch Ruths hatte Moses die Szene
gestrichen, was einen Bruch der Abmachung der beiden Partner zur Folge hatte.
Zusätzlich findet Moses im Hotelzimmer ein Bild, das so sehr an diese Szene
erinnert, dass er sich Gedanken zu machen beginnt, ob hinter der ganzen
Retrospektive nicht seine ehemaliger Freund und Partner steckt.
Virtuos führt Abraham B. Jehoschua den Leser in die künstlerische Welt des
Filmemachers ein, indem er den Leser behutsam mit in die Filmvorführungen nimmt
und dabei an den Gedanken des alternden Moses teilhaben lässt, der, konfrontiert
mit seinem frühen Schaffen, noch dazu in der ihm fremden Sprache, die
Vergangenheit nicht nur künstlerisch, sondern auch privat aufzuarbeiten beginnt.
Symbolisch betrachtet, beziehen sich die Filme auch auf die Situation im damals
noch jungen Staate Israel und sind ebenso ein Spiegel der damaligen, jungen
israelischen Kunstszene.
Durch die von den Organisatoren zur Verfügung gestellten Betreuer erfährt Moses
spät, dass die ursprüngliche Idee zur Retrospektive und die Filmauswahl, wie
längst vermutet, durch Trigon gelenkt worden ist. Wieso? Der Regisseur versucht,
dies bereits in Santiago de Compostela herauszufinden, kommt dabei aber nur langsam weiter.
Moses sieht es als Herausforderung, sich seiner Vergangenheit und dem Freund zu
stellen. Wieder in Israel, stellt er sich dieser Aufgabe, auch jener der
Versöhnung mit seinem alten Freund, mit interessanter Konsequenz.
Abraham B. Jehoschua breitet seinen Text langsam und würdevoll vor dem Leser
aus, der einzig und allein bereit sein muss, auf große Gesten und rasante Tempi
zu verzichten. Wunderschöne Szenen und Sätze folgen aufeinander, kongenial
übersetzt, sodass der Text selbst bereits zum Kunstwerk wird.
"Moses schenkt Ruth, die noch immer im Bett liegt, ein Lächeln. Ihr Haar
liegt aufgebreitet auf dem Kissen, das sie im Nacken stützt, und in ihren
schönen Augen glitzern Tränen, voller Dankbarkeit für den sonderbaren,
behutsamen Weg, den ihr Begleiter gewählt hat, um eine verdrängte, aber nicht
ausgelöschte Erinnerung in ihr wieder wachzurufen."
Je weiter man in diesen Kunstraum des "Films im Roman" eindringt, desto langsamer
will man sich entlang der Gedankengänge und Erzähllinien weiterbewegen, einfach,
weil man meistens versucht ist, die Sätze mehrfach zu lesen, einfach um ihre
poetisch inspirierte Schönheit länger auskosten zu können. Aus der Perspektive
eines reflektierenden, nüchternen und allwissenden Erzählers, der für Dialoge
quasi unsichtbar wird und dem Hauptprotagonisten Moses immer wieder das Steuer
überlässt, zeichnet der Autor, scheinbar ganz nebenbei, großartige Figuren.
Selbst auf den ersten Blick unwichtige und nebensächliche Tatsachen und Momente
werden so perfekt in die Textur integriert, dass man hier wirklich von einem
meisterhaft komponierten Roman sprechen muss.
"Spanische Barmherzigkeit" ist ein großartiger Roman eines viel zu unbeachteten
Schriftstellers, der sich mit der Reflexion über einen großen Lebenserfolg und
dem damit verbundenen, vom Leben geforderten Preis beschäftigt. Ein großer Roman
über die Filmkunst, über die Liebe und über die Freundschaft. Zu guter Letzt,
ein großer Roman über Israel.
Absolute Empfehlung.
(Roland Freisitzer; 10/2013)
Abraham B. Jehoschua: "Spanische
Barmherzigkeit"
(Originaltitel "Chessed Sfaradi")
Aus dem Hebräischen von Markus Lemke.
Suhrkamp, 2013. 477 Seiten.
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Abraham B. Jehoschua, geboren
1936, studierte Philosophie und Hebräische Literatur. Er verbrachte drei Jahre
im Kibbuz und war Generalsekretär der "World Union of Jewish Students" in
Paris. Seit 1972 ist er Professor für Vergleichende und Hebräische
Literaturwissenschaft. Abraham B. Jehoschua lebt mit seiner Familie in Haifa.
Sein Debüt "Der Liebhaber" erschien 1977 und etablierte seinen internationalen
Ruf. Jehoschua ist Autor von insgesamt neun Romanen, die in 22 Sprachen
übersetzt wurden. Für sein Werk erhielt er zahlreiche Preise.