Ian McEwan: "Honig"
Ian McEwan hat sich in den
letzten Jahren eingehend mit dem
Kalten Krieg und der vorangehenden
Nachkriegszeit befasst und sich dabei auch gerne des einen oder anderen
literarischen Kniffs bedient. Der erste Trick, dessen er sich in "Honig"
bedient, ist, dass er eine Ich-Erzählerin namens Serena einführt, die Tochter
eines Bischofs und seiner aufopferungsvollen Frau, und die Tochter von Lucy,
einer hoffnungsvollen Medizinstudentin, die aufgrund von Hippietum, Alkohol und
ungewollter Schwangerschaft den von ihren Eltern und ursprünglich auch ihr
angestrebten Lebensweg verlässt und so im Haus des hohen Geistlichen ein wenig
die Rolle des "verlorenen Sohns nach einer Geschlechtsumwandlung" einnimmt.
Serena selbst ist sehr am Studium der englischen Literatur interessiert, aber
ihr unerwartetes Talent für
Mathematik
veranlasst ihre Eltern dazu, sie in ein
entsprechendes Studium in Cambridge zu drängen, wo sie aber Ende der
1960er-Jahre nicht nur als Exotin gilt, sondern auch schnell bemerkt, dass sich ihre
Fähigkeiten an einer Mädchenschule nicht unbedingt mit denen der
mathematischen Elite anderer Schulen messen können. Dies motiviert sie dazu, bald in einen
anderen Fachbereich zu wechseln.
Dabei fällt sie einem Dozenten auf, der sich auch in anderer Hinsicht für sie zu
interessieren beginnt, und während ihrer regelmäßigen Wochenendtreffen bereitet
er sie nach einem ganz anderen Curriculum auf die Arbeit beim Geheimdienst vor:
Er legt ihr im wörtlichen Sinne des Wortes die Hand auf die Schulter, der bis zu
diesem Zeitpunkt noch übliche Weg der Rekrutierung aus den akademischen Rängen -
wenn auch nicht für weibliche Mitarbeiterinnen.
Nachdem diese Beziehung in sehr unangenehmer Art und Weise vom männlichen
Partner beendet worden ist, bewirbt sich Serena trotzdem beim MI5 und wird
dort zusammen mit einigen anderen Frauen im Archivbereich eingestellt - und das
zu einem Gehalt, das eigentlich deutlich unter dem vergleichbarer Bürokräfte
liegt. Zudem muss sie auch noch verschwiegen gegenüber Außenstehenden
bleiben, beginnt sich jedoch mehr für Politik sowie aktuelle Ereignisse zu
interessieren.
Nach einem haarigen Intermezzo, bei dem eine gute Kollegin ihre Stelle verliert
und Serena sich auf dem Weg nach draußen sieht, wird sie unerwartet in die Rolle
einer Agentenführerin gedrängt, um als literarisch Gebildete einen jungen
hoffnungsvollen Schriftsteller zu einem verdeckten Meinungsbildungs- und
Propagandainstrument zu machen. Und da es nun einmal ihrem Naturell entspricht,
verliebt sie sich zunächst in seine Texte, die sie in der Vorabinformation
findet, und schließlich in den hoffnungsvollen Künstler selbst. Im Zuge dessen geraten
beide in die innenpolitischen Mechanismen der Geheimdienstarbeit zwischen
MI5 und MI6 und den Polizeibehörden und müssen schließlich einige Kapriolen
schlagen, um da wieder herauszukommen.
Der Naive, der in die Geheimdienstarbeit hineingezogen wird, ist spätestens seit
Graham Greenes
"Unser Mann in Havanna" eine relativ beliebte Figur in
Agentenromanen, und Greene und
Le Carré haben sich dieser Gestalt oft genug bedient.
Serena, die wesentlich stärker hormonell gesteuert zu sein scheint, als ihre
vielen literarischen Vorgänger, ist unter all diesen Figuren sicherlich eine der
naivsten, was es ermöglicht, einen literarischen Kunstgriff zu tätigen, wie
ihn Serena selbst im Verlauf des Romans mehrfach bei Autoren kritisiert, und der
im Endeffekt dem Roman neben einigen der hierin vorgestellten Geschichten des
hoffnungsvollen Autors noch einen zusätzlichen literarischen Anstrich gibt.
Das
mag dem einen oder anderen Leser gefallen; man könnte es aber auch bösartig als
einen Versuch werten, eine mehr oder minder dahinplätschernde und von netten
literarischen Einschüben unterbrochene Geschichte, (die im Übrigen größtenteils
an bestehende Werke, wie "Die Straße" etc. erinnert), auf dem letzten Meter noch
einmal aufzuwerten bzw. zu retten.
(K.-G. Beck-Ewerhardy; 10/2013)
Ian McEwan: "Honig"
(Originaltitel "Sweet Tooth")
Übersetzt von Werner Schmitz.
Diogenes, 2013. 463 Seiten.
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Ian McEwan wurde 1948 in
Aldershot (Hampshire) geboren. Er lebt in London. 1998 erhielt er für
"Amsterdam" den "Booker-Preis" und 1999 den "Shakespeare-Preis" der "Alfred-Toepfer-Stiftung"
für das Gesamtwerk. Sein Roman "Abbitte" wurde zum Welterfolg und mit Keira
Knightley verfilmt. Er ist Mitglied der "Royal Society of Literature", der
"Royal Society of Arts" und der "American Academy of Arts and Sciences".
Weitere Bücher des Autors (Auswahl):
"Abbitte"
Am heißesten Tag im Sommer 1935 wird die dreizehnjährige Briony Tallis im
Landhaus ihrer Familie Zeuge eines eigenartigen Geschehens. In der Schwüle des
Tages sind alle wie verwandelt: Was treibt die ältere Schwester mit Robbie
Turner am Brunnen, was in einer dunklen Ecke der Bibliothek? Und wie ist jenes
Wort in dem Brief zu verstehen, den sie nicht öffnen sollte? Mit Briony geht die
Fantasie durch. Noch am selben Abend ist das Leben aller Beteiligten für immer
verändert ...
"Abbitte" ist ein Buch über Leidenschaft und die Macht des Unbewussten, über
Reue und die Schwierigkeiten der Vergebung. Ein Meisterwerk, einfach hinreißend
in seiner Beschreibung von Kindheit, Krieg und Liebe. In leuchtenden Bildern
ersteht ein ganzes Universum: Weltliteratur. (Diogenes)
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"Amsterdam"
Vernon und Clive, zwei langjährige Freunde, sehen sich bei der Einäscherung von
Molly wieder, einer Frau, mit der sie beide einmal mehr als Freundschaft
verband. Angesichts des traurigen Endes, das ihre ehemalige Geliebte gefunden
hat, schließen sie einen Pakt: Sollte einer von ihnen unheilbar erkranken, wird
der Andere das Leiden abkürzen ...
Die Beerdigung hat Clive aus dem Komponieren seines Lebenswerks herausgerissen.
Auf einem Spaziergang im Lake District kommt ihm die erleuchtende Idee für das
Finale seiner Millenniumsinfonie - in ebendem Moment, als eine Frau um Hilfe
ruft. Clive muss sich zwischen Kunst und Leben entscheiden. Auch Vernon muss
eine folgenschwere Entscheidung treffen: Ihm sind kompromittierende Fotos des
rechten Politikers Garmony zugespielt worden. Soll er den politischen Gegner und
früheren Rivalen durch einen Skandal in den Medien ruinieren? Intrigen, die sich
als teuflisch erweisen: In Amsterdam eröffnen sich viele Möglichkeiten, auch
solche mit fatalen Folgen ... (Diogenes)
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"Unschuldige. Eine Berliner Liebesgeschichte"
Berlin in den 1950er-Jahren: der ideale Tummelplatz für Geheimdienste und Spione
jeglicher Couleur. Leonard Marnham, ein englischer Fernmeldetechniker, kommt
anno 1955 mit 26 Jahren nach Berlin, wo er sowjetische Telefonleitungen anzapfen
soll. Außerdem verliebt er sich - naiv und schüchtern, wie er ist - in eine vier
Jahre ältere Deutsche. Leonard vergräbt sich immer tiefer und auswegloser in
fremde, gefährliche Welten und wird von der hübschen Maria in die verborgenen
Winkel menschlicher Beziehungen geführt. Marnham fühlt, wie ihm sein Leben
entgleitet - und findet es herrlich. (Diogenes)
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