Mo Yan: "Frösche"
Die Hebamme als Todesengel:
Geburtenpolitik in China
"Renner", der Ich-Erzähler aus Mo Yans Roman "Frösche", gehört zu den ersten
Kindern, die seine Tante Gugu auf die Welt geholt hat. Und Gugu ist die erste
nach westlichem Vorbild ausgebildete Hebamme und Frauenärztin in der
chinesischen Provinz Gaomi. Sehr rasch revolutioniert sie die Geburtshilfe in
ihrer Heimat; ihre Methode erweist sich gegenüber der traditionellen als weit
überlegen, und Gugu erkämpft sich einen großartigen Ruf. So gelingt es ihr auch,
die Anfeindungen zu überstehen, die aus der Flucht ihres Verlobten, eines
Piloten, nach Taiwan resultieren.
Doch nach einer Hungersnot kommt es zu einer regelrechten Geburtenschwemme, und
die Regierung bringt als Reaktion die Ein-Kind-Regelung auf den Weg. Diese
kollidiert heftig mit den traditionellen Ansichten, denn wer keinen Sohn hat,
lebt gemäß der Überlieferung nach dem Tod nicht weiter. Somit versuchen Eltern
von Mädchen verzweifelt, heimlich Söhne in die Welt zu setzen. Und Gugu mutiert
von der Lebensspenderin zum Todesengel, denn - sicher auch in der Bemühung, ihre
Linientreue nach dem erwähnten Vorfall erst recht zu beweisen - sie nötigt nicht
nur die zu Vätern gewordenen Männern zur Sterilisierung, sondern sie spürt auch
unerbittlich alle Schwangeren auf und zwingt sie zur Abtreibung, selbst jene,
die bereits im siebten Monat oder weiter sind. Es kommt zu schrecklichen Dramen,
in deren Verlauf auch Hochschwangere beim erzwungenen Abort sterben, darunter
die erste Frau des Ich-Erzählers.
Gugu, hart und der Regierungspolitik völlig ergeben, wird nun von der
Bevölkerung der Provinz als brutale Vollstreckerin gehasst. Doch das alles geht
nur scheinbar an ihr vorüber. Mit zunehmendem Alter holt sie die schreckliche
Schuld ein, und sie verfällt dem Wahnsinn.
Mo Yan, der im Jahr 2012 den Nobelpreis für Literatur erhielt, wählt für diesen
Roman eine ganz andere Darstellungsweise als in "Der
Überdruss", in dem er in einem weitgehend fantastischen Rahmen die
Nachkriegsgeschichte Chinas erzählt. Auch "Frösche" befasst sich mit diesem Teil
der chinesischen Geschichte; Gugus Vater gehört zu den Kriegshelden. Doch
besteht der Roman überwiegend aus Briefen, die der Ich-Erzähler, mittlerweile
ein Schriftsteller mit dem viel sagenden Pseudonym "Kaulquappe", einem
befreundeten Japaner schickt, der sich für Gugus ungewöhnliche Biografie
interessiert.
Neben Gugu fungieren einige Angehörige des Ich-Erzählers sowie mehrere Familien
aus dem Dorf als Protagonisten, anhand deren Entwicklung sich dem Leser auch die
teils sehr verstörende chinesische Zeitgeschichte erschließt. So ist neben der
brutalen Durchsetzung der Ein-Kind-Politik durch linientreue Kader wie Gugu auch
die Kulturrevolution ein wesentliches Thema, während derer selbst Gugu angeklagt
und aufs Heftigste misshandelt wird. Und schließlich zeigt sich, wie gerade in
aktueller Zeit die Gesetze durch Reiche und auf Kosten der Integrität der Armen
verbogen werden, wie ausgerechnet in einem der letzten kommunistischen Staaten
Klassengegensätze aufeinander prallen und eine ursprünglich in guter Absicht
eingesetzte Regelung völlig ad absurdum geführt wird.
Der Autor ist ein begnadeter Erzähler, der Spannung und Gefühl perfekt
einzusetzen weiß und den Leser an jeder Stelle mitzunehmen versteht. Erst nach
einiger Zeit erschließt sich die Titelwahl, denn das chinesische Wort für
Frosch, "Wa", hat eine ganze Reihe weiterer, teils nuancierter Bedeutungen,
nicht zuletzt in Wortzusammensetzungen. Dies wird dem deutschsprachigen Leser
jedoch anschaulich nahegebracht. Immer häufiger treten beim Voranschreiten des
Romans Frösche auf, bis sich zeigt, wie eng die Frösche mit den Protagonisten
verbunden sind, auf Gedeih und Verderb.
Im Nachwort geht Mo Yan auf die gegen ihn von Dissidenten erhobenen Vorwürfe, er
sei ein "Hofdichter" des Regimes, sehr differenziert ein und zeigt auf, dass ein
chinesischer Autor niemals "korrekt" schreiben kann; entweder gilt er im eigenen
Land als "westlich" oder bei Dissidenten und im Westen eben als "Hofdichter",
und dass er mittlerweile seinen eigenen Weg gefunden habe, unabhängig von
Meinungen.
Ein packender, brutaler, dabei jedoch auch sehr poetischer und bezaubernder,
stellenweise ans Fantastische anknüpfender Roman, chinesische Zeitgeschichte in
einer mitreißenden Geschichte, wie nur Mo Yan sie darzustellen vermag.
(Regina Károlyi; 03/2013)
Mo Yan: "Frösche"
(Originaltitel "Wa")
Übersetzt aus dem Chinesischen von Martina Hasse.
Hanser, 2013. 509 Seiten.
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Noch ein Buchtipp:
Zhao Jie: "Kleiner Phönix. Eine Kindheit unter Mao"
Bewegende Erinnerungen gewähren einmalige Einblicke in chinesisches Denken und chinesische
Kultur.
Ihre Eltern waren Schauspieler im Dienste der Armee und nie zu Hause. So wuchs
die kleine Zhao Jie, genannt Cui, in den frühen 60er-Jahren mit ihrer Großmutter
und den Nachbarn in einem engen Hof in unmittelbarer Nachbarschaft zum Platz des
Himmlischen Friedens auf. Das Zentrum des Riesenreiches ist ihr Spielplatz, hier
lernt sie Fahrrad fahren und schwenkt Papierblumen für die Revolution. Mao wird
für das Mädchen zur unerreichbaren Vaterfigur, der sie wie Millionen andere
Kinder ihrer Generation gläubig folgt. Ihre Großmutter schenkt ihr die Liebe,
Mao ein Lebensideal. Mit neun Jahren trägt sie die ordensgeschmückte Uniform der
Rotgardisten. Mit dreizehn marschiert sie bis zum Zusammenbruch. Erst als sie
fern von daheim als Erntehelferin in einem armen Bauerdorf lebt, wird ihr klar,
dass sie ihre Kindheit einer Lüge geopfert hat.
Zhao Jies erstaunliche Erinnerungen eröffnen einen großartigen und nie gesehenen
persönlichen Blick in ein bis heute rätselhaftes Land. Zhao Jies
Lebensgeschichte ist ein Dokument des Optimismus und Lebensmutes. Sie erzählt
von der Befreiung aus der Unmündigkeit und von kindlicher Liebe, Freundschaft
und Kraft, die kein Staat brechen kann. (Blessing) zur Rezension ...
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