Ugo Riccarelli: "Die Residenz des Doktor Rattazzi"
Die Irrenanstalt übt bereits früh
ihre Faszination auf Beniamino aus. Schon als Kind beobachtet er die Verrückten
dabei, wie sie fast in Trance über den Hof trotten, gelähmt und gefangen hinter
den Mauern der Anstalt, wie sie Rosenblüten kauen und schlucken.
Ein Unglück und der Tod seines Vaters zwingen ihn schließlich, das Studium
aufzugeben und eine Arbeit als Pfleger in der Irrenanstalt anzunehmen.
Die Abneigung gegen den Wahnsinn, der hinter den Mauern eingeschlossen ist,
teilt das ganze Dorf. Selbst die Angestellten der Irrenanstalt sehen auf die
"verlorenen Seelen" hinab - eine Abneigung, die Beniamino nicht mit ihnen
teilen kann.
Auch der neue Arzt Doktor Rattazzi sieht in den Verrückten mehr als nur
wahnsinnige Menschen. In Beniamino erkennt Rattazzi die gute Seele, die tiefe
Verbundenheit, die er mit diesen Irren teilt und Beniamino verstehen lässt, was
nur die Wenigsten verstehen.
Um dem Krieg und den Elektroschocks zu entfliehen, folgt Beniamino Doktor
Rattazzi und einigen seiner Patienten in die ruhige Landschaft des Pianoro, in
seinen Schutz, wo dem Wahnsinn Linderung verschafft werden kann.
Doch auch hier finden sie nach dem Tod des Doktor Rattazzi keine Ruhe. Die
Grausamkeiten des Krieges verschonen sie nicht. Dem Wahnsinn in den Köpfen der
Menschen, dem eine kurze Pause gegönnt worden ist, setzt der Krieg noch mehr zu.
Er holt sie ein, und manche, wie Fosco, der Albatros, der seine Hände ausbreitet
und wie ein Vogel mit den Flügeln schlägt, werden ein Teil von ihm, denn: "Man
muss bezahlen. Für den Frieden. Die Liebe."
Der Wahnsinn zieht sich wie ein Faden von der ersten bis zur letzten Seite des
Buches. Mit ungeahnter Leichtigkeit vermittelt Riccarelli dem Leser diesen
Wahnsinn. Ob es der Wahnsinn der Großmutter ist, die ihren eigenen Gedanken
nicht mehr folgen kann, der Wahnsinn, der die Irren fest in seinem Griff hält,
der Wahnsinn des Krieges oder Beniaminos ganz persönlicher Wahnsinn, sie alle
sind miteinander verbunden.
Der Krieg und die Irrenanstalt zeichnen ein unverkennbares Bild der Zeit.
Riccarelli versteht es, die wichtige Aussage mit Details zu verknüpfen. Mit
diesem Buch hat Riccarelli ein lebendiges, farbenfrohes und vielseitiges Porträt
von den wahrscheinlich dunkelsten Jahren unserer Zeit geschaffen. Der Autor
greift die Frage des Wahnsinns, der uns in vermutlich allen Situationen unseres
Lebens begleitet, auf und stellt sie ins Licht der täglichen Realität. Wahnsinn
beherrscht die Irren, und Wahnsinn ist es, wenn Beniamino Rosenblüten isst und
sich erlöst und frei fühlt.
Wahnsinn
ist es, der alle einnimmt.
"Die Residenz des Doktor Rattazzi" fesselt von der ersten bis zur letzten Zeile. Absolut lesenswert.
(Sabrina Brugner; 03/2013)
Ugo Riccarelli: "Die Residenz des Doktor Rattazzi"
(Originaltitel "Comallamore")
Übersetzt aus dem Italienischen von Annette Kopetzki.
Zsolnay, 2013. 192 Seiten.
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