Michael Stavarič: "Königreich der Schatten"
Töten und Schlachten:
Achtung und Ächtung unterscheiden sich oft nicht einmal in zwei Punkten
Danny Loket, Kind tschechischer Emigranten in New York, findet in einer Kiste am
Dachboden fünfzig fein säuberlich aufbewahrte Kriegsandenken seines Großvaters,
des Fleischers Loket aus dem mährischen Simtany bei Havlíčkův Brod: Orden,
Ausrüstungsgegenstände und Briefe der von ihm getöteten deutschen Soldaten. Sein
Vater und seine Brüder sind Fabrikarbeiter geworden. Der fantasiebegabte junge
Mann sieht im verödeten Amerika, in dem Vögel und viel andere Tiere ausgestorben
sind, keine Lebensperspektive mehr und reist nach Europa, um sich auf die Spuren
seines Großvaters in Frankreich, Deutschland und Tschechien zu begeben.
Rosi Schmieg hingegen wächst bei ihrer Mutter in Wien auf. Seit sie sich
erinnern kann, geht sie an der Hand ihrer Mutter in die nahegelegene Fleischerei
Schlingel. Ihr Großvater, ebenfalls Fleischer und Kriegskamerad von Schlingel,
fiel im Krieg auf deutscher Seite. Während einer internationalen Fleischermesse
in Leipzig entschließt sie sich, den geachteten Beruf ihres idealisierten
Großvaters zu erlernen. Die Exponate und Vorführungen auf dieser fachlichen
Zusammenkunft beschreibt der Autor in allen Facetten einer überbordenden
Fantasie: Die Kandidatinnen zur Miss Fleisch tänzeln über rohe Koteletts, in die
sie mit ihren Füßen Gewürze einmassieren, fluoreszierende Antirutschmatten
sorgen während der Schlachtung für geeignetes Licht, ein dressierter Gaul tötet
Schweine und Schafe mit gezielten Huftritten, ... Rosi sammelt Eindrücke wie
Dannys Großvater Schlachttrophäen.
Zwischen diese blutigen, aber aus der Perspektive von Rosi nicht
verurteilenswerten Geschehnisse schieben sich die in der Familie mündlich
weitererzählten Kriegserlebnisse von Großvater Schmieg und seinem Kameraden
Schlingel. Mit der Übernahme und Neueröffnung einer Fleischerei in Leipzig setzt
die junge Frau schließlich die Fleischertradition ihrer Familie fort.
Dort, auf der schnittfesten Antirutschmatte im Schlachtraum, kommt es ganz am
Ende des Romans es zu einer sehr kurzen und überaus überraschenden Begegnung
zwischen Danny und Rosi. Es ist kein glückliches Ende.
Nicht nur im Thema, auch formal ist der Roman außergewöhnlich. Jedes Kapitel ist
einer der beiden Hauptfiguren zugeordnet und mit dem Venus- bzw. Marssymbol
bezeichnet. Die einleitenden Beschreibungen der Protagonisten umfassen
fünfzigteilige Listen, die Kriegstrophäenliste von Dannys Großvater und fünfzig
glückliche Erinnerungen an Rosis Kindheit, die allesamt mit der Mutter und der
ortsansässigen Fleischerei Schlingel in Verbindung stehen. Auch die Erlebnisse
auf der internationalen Fleischermesse reihen sich aufzählend wie eine Koje an
die andere.
Rosis Lust am toten rohen Fleisch wirkt recht unweiblich, kontrastiert mit den
karikaturenhaften Illustrationen von Mari Otberg, die einen akzentuierten und
attraktiven Körper der jungen Dame zeigen. Danny hingegen liebt Geschichten, die
er vor dem Zubettgehen hörte, Märchen, aber auch jene vom unheimlichen Stalin.
Oft vergleicht er Worte in der tschechischen und der englischen Sprache. Seine
Fantasie entfremdet ihn von der Familie, führt ihn zurück zu seinen europäischen
Wurzeln. Rosi und er hätten sich recht gut ergänzen können.
Der seit seiner Kindheit in Wien lebende Tscheche Michael Stavarič stößt seine
Leser mitten in die blutige Welt des Fleisches, zieht einen assoziativen Bogen
von den Schlachten des Zweiten Weltkriegs zum Schlachten in den Hinterstuben der
Fleischerei und zur Ausrottung von Tieren. Mit Witz und absurden Wendungen,
Sprachspiel und inhaltlichen Überraschungen variiert der Autor ein vordergründig
unliterarisches Thema, das auf den ersten - langen - Moment abschrecken mag, um
dann kreativ nach einer kulturbegründenden Rolle des Tötens zu fragen. Auch nach
der Lektüre von "Königreich der Schatten" sind schnelle Antworten auf solche
Fragen schwierig, aber ich bin um ein seltenes Lesevergnügen reicher.
(Wolfgang Moser;10/2013)
Michael Stavarič: "Königreich
der Schatten"
Mit Illustrationen von Mari Otberg.
C.H. Beck, 2013. 253 Seiten.
Buch
bei amazon.de bestellen
Digitalbuch bei amazon.de bestellen