William Makepeace Thackeray: "Die Memoiren des Barry Lyndon"
Memoiren eines sympathischen
Hochstaplers
William Makepeace Thackeray war, wenn man so will, ein "böser Bube" der
britischen Literatur seiner Zeit. Im Privatleben eher erfolglos, verspielt er
früh sein ganzes Erbe und versucht sich ein paar Mal an unsinnigen
Firmengründungen, die am Ende klar scheitern. Berühmt als Lästerzunge, Zyniker,
Querulant und als Rivale des berühmteren
Charles Dickens,
schrieb er Romane, die ebenso brillant wie des großen Rivalen sind, die
allerdings kritischer mit der damaligen Zeit und den Traditionen umgehen.
"Die Memoiren des Barry Lyndon" ist vielleicht nicht so berühmt wie "Jahrmarkt
der Eitelkeit", jedoch ein perfektes Beispiel für die gesellschafts- und
obrigkeitskritischen Ideen Thackerays.
Im Mittelpunkt dieses auch recht witzigen Schelmenromans steht Redmond Barry.
Ein Sprössling aus dem Hause Barry, einer geachteten, aber finanziell ruinierten
irischen Familie. In seiner Jugend erlernt er mit Begeisterung die Manieren des
Adels und das Schwingen des Schwertes. In den eher mühsamen Schulfächern wie
Latein hat er
nur Misserfolge. Er ist ein heißblütiger, leidenschaftlicher Junge, der sich in
seine etwas ältere Kusine Nora verliebt, die allerdings auf eine finanziell
interessantere Partie mit John Quin hofft, der ihre Familie aus der Finanzmisere
ziehen soll.
Barry versucht sich an einem Duell mit dem Nebenbuhler, den er vermeintlich
tötet, und flieht vor seinen Gläubigern aufs Festland, um in Deutschland in der
Armee zu dienen. Schnell merkt er, dass er für diese Tätigkeit nicht geschaffen
ist und plant zu desertieren. Über eine inszenierte Verwechslung schafft er
vorerst die Flucht, nur um rasch wieder vom Pech verfolgt zu werden. Ein
reisender preußischer Offizier erkennt bald, dass Redmond Barry nicht Leutnant
Fakenham ist, für den er sich ausgibt, liefert ihn aber nicht an die Briten (zur
Bestrafung durch den Strang) aus.
In Berlin trifft er auf einen Onkel, der als kartenspielender Gauner unterwegs
ist. Zusammen ziehen die beiden durch die Lande und erleben ein Abenteuer nach
dem anderen.
Redmond Barry ist eine überzeugend gezeichnete ambivalente Figur, die vor keiner
noch so unehrlichen Maßnahme zurückschreckt, so lange das Ziel der Bereicherung
im Visier bleibt. Einer, der betrügt, der erpresst, der lügt und nach allen
moralischen Maßstäben gemessen einfach ein gewissenloser Gauner ist. Einer, der
unter dem Schatten seines unendlich großen Egos nicht den eklatanten Unterschied
zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung sieht.
Nichtsdestotrotz schafft es der Autor, zwischen Redmond Barry und dem Leser eine
innige Sympathie aufzubauen, der man sich beim besten Willen nicht verweigern
kann.
Nachdem Redmond Barry und sein Onkel viel Geld gewonnen und wieder verloren
haben, scheitert auch ein ambitionierter Heiratsplan erneut an unvorhergesehenen
Umständen. Die beiden flüchten nach Frankreich, wo Redmond eine hübsche Adelige
verführen kann, die jedoch mit einem viel älteren und reichen Mann verheiratet
ist. Während sich Redmond um die verheiratete Dame bemüht, hängt ihr Mann mit
voller Kraft am Leben, was Redmond zu einem kurzfristigen Rückzug zwingt.
Glücklicherweise kann sich der Gatte nicht der Natur verwehren und stirbt bald
darauf.
Das Glück der durch den Tod des Alten ermöglichten Ehe reicht Redmond Barry doch
rasch nicht mehr, er gibt das Erbe seiner Angetrauten ungebremst aus, bis auch
hier dunkle Wolken aufziehen und er sich seinem Schicksal als Pechvogel beugen
muss.
Nach einer Episode in Amerika und dem tragischen Tod seines Sohnes verbringt er
die letzten neunzehn Jahre in Haft, vom Alkohol gezeichnet.
Thackeray schafft es, in diesen mehr als siebenhundert Seiten ein Tempo
vorzulegen, das seine einfallsreichen und sprudelnden Geschichten in einer Art
Sturzbach dahinfegen lässt. Eine solche Vielfalt an fesselnden, detaillierten
und geistreichen Geschichten, die hier diesen wunderbaren Roman ausmachen,
erlebt man selten in einem Buch. Und trotzdem ergibt sich ein schlüssiges
Ganzes, das selbst bei mehr als siebenhundert Seiten keinen wirklichen
Durchhänger hat.
Die kongeniale Übersetzung von Gisbert Haefs bringt das englische Original auch
in deutscher Sprache endlich zum Leuchten und trifft den originalen Tonfall
haargenau. Kein Vergleich zu früheren, furchtbar verstaubten Ausgaben dieses
Klassikers.
"Die Memoiren des Barry Lyndon" ist ein großartiger, kritischer und geistreicher
Schelmenroman des 19. Jahrhunderts, der sich überhaupt nicht wie ein Schmöker
seiner Zeit liest. Rasant führt er den Leser durch einen zeitlosen Roman, der
eine sehr wichtige Wiederentdeckung darstellt.
Absolute Empfehlung.
(Roland Freisitzer; 11/2013)
William Makepeace Thackeray: "Die Memoiren des
Barry Lyndon"
(Originaltitel "The Memoirs of Barry Lyndon,
Esq., of the Kingdom of Ireland")
Aus dem Englischen
von Gisbert Haefs. Nachwort von Hanjo Kesting.
Manesse, 2013. 761 Seiten.
Buch
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William Makepeace Thackeray
(1811-1863), in Kalkutta geborener Sohn eines Kolonialbeamten, wuchs nach dem
frühen Tod des Vaters in England auf. Zweimal brach er das Jurastudium ab,
bereiste Italien, Frankreich und Deutschland und wandte sich dann dem
Journalismus zu. Die erfolglose Gründung zweier Zeitschriften und seine
Leidenschaft für Pferdewetten und Kartenspiel brachten Thackeray schnell um das
ererbte Vermögen. Ab 1837 schrieb er regelmäßig für "Fraser's Magazine"
und "Punch", wo in den folgenden Jahren seine Reiseberichte und Romane
erschienen. Seinen Durchbruch feierte er 1847/1848 mit "Jahrmarkt der Eitelkeit", dem
Roman, der ihn zum ernsthaften Konkurrenten des Publikumslieblings Charles Dickens werden ließ, was die Freundschaft der beiden Autoren nachhaltig trübte.
Weiteres Bücher des Autors (Auswahl):
"Das Buch der Snobs"
Mit einem Nachwort von
Asfa-Wossen Asserate.
Er schläft in weißen Glacéhandschuhen, tischt auf bis zum Bankrott und kämpft
erbittert um seine gesellschaftliche Stellung: der Snob. Heute in aller
Munde, wurde der Typus des arroganten Selbstdarstellers überhaupt erst mit
diesem Buch populär. Thackerays vergnügliche "Snobologie" liegt hier in einer
neuen, erstmals vollständigen Übersetzung vor.
Wo die Roben rauschen und lässige Eleganz herrscht, sind die Snobs nicht
weit. Mit Opportunismus gepaarte Überheblichkeit zeichnet sie ebenso aus wie die
penible Kenntnis des Adelskalenders und eine Heidenangst, nicht mehr zur
"besseren Gesellschaft" gerechnet zu werden. Denn zu der gehört nur, wer ein
Haus voller Lakaien sein Eigen nennt und die richtigen Verbindungen pflegt. Nach
oben schmeicheln, nach unten "snobben", lautet völlig unverblümt die
Devise. Einerlei, ob an der Universität, beim Militär oder in der Politik:
Überall sonnen sich die Snobs, unbeleckt von jedwedem Selbstzweifel, im
Glanz ihrer eigenen Großartigkeit. Und die Gesellschaft sieht staunend zu, wie
diese Spezies Mensch ihre Räder schlägt.
Als Kolumnist der Satirezeitschrift "Punch" war William Makepeace
Thackeray ein Jahr lang den Snobs von London auf der Spur. Nie um eine
Pointe verlegen und mit großer Lust an der Abschweifung, gelang ihm - wie auch
schon in seinem erfolgreichen Roman "Jahrmarkt der Eitelkeiten" - ein
schillerndes Panorama seiner Zeitgenossen. Parallelen zu unserer heutigen
Glamourwelt sind dabei rein zufälliger Natur. (Manesse)
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"Jahrmarkt der Eitelkeit oder Ein Roman ohne Helden"
Dieser Roman voller Kritik an der englischen Gesellschaft erzählt auf
unterhaltsame Weise die Geschichte vom Aufstieg und Fall der Freundinnen Amelia
und Becky.
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