Fadhil al-Azzawi: "Der Letzte der Engel"
Große
Erzählkunst aus dem Irak
Wahrlich hoch an der Zeit war es, von diesem Autor, der seit
Jahrzehnten zu den meistgelesenen arabischer Zunge zählt, nun
endlich einen Roman in deutscher Übersetzung lesen zu
können, umso befremdlicher die Verzögerung, als
Fadhil al-Azzawi die letzten Jahrzehnte im deutschen Exil verbracht
hat. Geschrieben wurde "Der Letzte der Engel" in den späten
Achtziger Jahren, behandelt in erster Linie das Werden, Sein und
Vergehen im Kirkuk der Fünfziger und frühen Sechziger
Jahre, schwingt sich dabei aber letztlich zu nichts weniger als einer
Bestandsaufnahme des Zustands der Menschheit überhaupt auf.
Von Kirkuk ist also die Rede, der Stadt im Nordirak mit der fatalen
Nähe zu großen Ölfeldern und ihrem
charakteristischen Völkergemisch, den drei großen
Volksgruppen der Kurden, Araber und Turkmenen und einiger kleinerer wie
assyrischer Christen und Juden (die allerdings nach dem verlorenen
Krieg gegen Israel großteils vertrieben werden), und weniger
von Kirkuk als ganzem als vielmehr von dem sogenannten Chukor-Viertel,
einem vergessenen Stadtviertel am Rand, dessen Einwohner, wenn man es
positiv sehen möchte (und Kinder, wie al-Azzawi damals eines
war, neigen sehr zu positiven Sichtweisen), außer Armut und
Dämonen keine echten Sorgen haben. Mit Dämonen sind
Dschinne gemeint, orientalische Geistwesen, die, meist aus Langeweile
oder Einsamkeit, wie es heißt, den Menschen alle
möglichen Streiche spielen und für die
Anfälligkeit der Städter für den Einbruch
und die Überlagerung anderer Wirklichkeitsebenen stehen, wozu
Traditionalismus, Aberglaube und ein häufig dubioses
Islamverständnis kräftig beitragen.
Allerdings kann Kirkuk auch mit allerlei sehr irdischen
Eigentümlichkeiten wie Korruption und Freunderlwirtschaft
aufwarten - wenn zum Beispiel ein Polizeiauto vor einem Haus parkt,
kann es sich um keinen Einbruch handeln, da die Polizei bei einem
solchen fleißig mitschneidet. Dementsprechend zeigt sich die
Stadt bevölkert von zahlreichen bunten Vögeln und
Originalen, deren Schicksale, Höhen und Tiefen,
Stärken und Schwächen der Autor ganz in
der großen orientalischen Erzähltradition,
mit sichtlichem Genuss am Fabulieren, an Geschichten innerhalb der
Geschichte, an märchenhaften und
übernatürlichen Handlungssträngen etc. vor
uns ausbreitet. Bei al-Azzawi spielt sich dieses Erzählen
außerdem in einer beeindruckenden Durchdringung satirischer,
fantastischer und poetischer, gegen Ende hin sogar apokalyptischer
Elemente ab, die vom Kunstsinn und der Lebenserfahrung des
Schriftstellers gebändigt und in eine überzeugende
Einheit gebracht worden sind: trotz aller zu Verbitterung Anlass
gebender beschriebener Brutalitäten (Putschversuche,
Niederschlagung von Erdölarbeiterstreiks, Kommunistengefahr,
Marionettenmonarchen, Hinrichtungen, Missachtung berechtigter Anliegen
des Volkes, kurz, die damalige Geschichte des Irak) verbleibt ein
heiterer Grundton, trotz aller fantastisch-magischer Eskapaden ein
nur allzu realistischer Grundbezug. "Die Zeit begräbt die
Wahrheit nicht.", heißt es irgendwo in dem Roman,
und Fadhil al-Azzawi trägt mit seinen Erinnerungen erheblich
dazu bei.
Drei seiner Protagonisten heben sich im positiven Sinn von der
übrigen Bevölkerung ein wenig ab und seien daher auch
hier gesondert erwähnt
Da haben wir zunächst Hamid Nylon, einen für Frauen,
Abenteuer und Heldentum empfänglichen jungen Mann, der, weil
er einer einflussreichen Engländerin auf ungehörige
Art (daher sein Spitzname) den Hof gemacht hat, aus den Diensten des
größten Arbeitgebers im Land, der britischen "Iraq Petroleum
Company" entlassen wird und sein Leben fortan dem Kampf gegen nicht nur
britische Ungerechtigkeiten führt: Hamid Nylon steht in dem
Roman für männlichen Tatendrang und Patriotismus.
Chidr Musa, ein schon etwas älterer Mann, verkörpert
eine relative Art von Weisheit und einen positiven Lebenslauf, einen
hart erarbeiteten allerdings, denn wir erleben ihn zunächst
als geldgierigen Schafhändler, der über zahlreiche
abenteuerliche Umwege (Waffenhandel, Religion, Sowjetunion) zu innerem
Gleichgewicht findet und zuguterletzt einigermaßen selbstlose
Verantwortung für sein Stadtviertel zu übernehmen im
Stande ist.
Burhan Abdallah schließlich verkörpert bis zu einem
gewissen Grad das Prinzip Hoffnung. Zu Beginn ist er ein
siebenjähriger Knabe, der sich selbst das Schreiben
beigebracht hat, auch sonst nicht unbegabt ist und mit
Übersinnlichem in Verbindung steht, seit er in einer Kiste auf
dem Dachboden seines Elternhauses mit drei alten Männern
(Geistern, Engeln,
Seelen Verstorbener, so genau muss man das nicht bestimmen), die sich
in einer anderen Wirklichkeitsfalte auf dem Weg ins Chukor-Viertel
befinden und dabei in Hanfleinensäcken den Frühling
als Gastgabe mitführen, in Berührung gekommen ist und
sich mit ihnen angefreundet hat.
Wenn der Schriftsteller gegen Ende des Romans Burhan Abdallah nach 46
Jahren im Exil nach Kirkuk zurückkehren und zwei gewaltige
gegensätzliche Visionen, die des endlich eingekehrten
Frühlings und eine des Weltuntergangs, erleben lässt,
kann man davon ausgehen, dass da zum großen Teil seine
eigenen Eindrücke bei der späten Rückkehr in
die Heimatstadt wie auch das Résumé nach seinen
bisherigen Erfahrungen mit der Menschheit, die bei allen liebenswerten
Zügen im Einzelnen doch ein ziemlich unreifer und
gewalttätiger Haufen geblieben ist, Wort geworden sind.
(fritz; 08/2014)
Fadhil
al-Azzawi: "Der Letzte der Engel"
(Originaltitel "Akhir al-Mala'ika")
Aus dem Arabischen von Larissa Bender.
Dörlemann, 2014. 512 Seiten.
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Fadhil al-Azzawi wurde 1940 in Kirkuk im Irak geboren. Anno 1969 gründete er die Lyrikzeitschrift "Shi'r 69", die nach vier Ausgaben verboten wurde. Nachdem er drei Jahre aufgrund seiner politischen Aktivitäten in Haft verbringen musste, verließ Fadhil al-Azzawi 1977 den Irak und lebt seither in Deutschland. Er schrieb zahlreiche Romane, sieben Lyrikbände und Essays und übersetzte unter Anderem Morgenstern, Musil und Enzensberger ins Arabische.