Ulrike Draesner: "Sieben Sprünge vom Rand der Welt"


Vom Menschen und vom Affen - Auf der Suche nach der verlorenen Wahrheit

Ulrike Draesners Roman "Sieben Sprünge vom Rand der Welt" beginnt mit einem fulminanten Prolog. Dieser ist zugleich auch so etwas wie die Keimzelle dieses leider letztendlich doch teilweise durchwachsenen Werks.

Die erzählerische Kraft, die Ulrike Draesner im Prolog, dessen Deutung erst später im Roman klar sein wird, entfacht, wird im Verlauf der weiteren knapp über fünfhundert Seiten immer wieder von der Masse der verschiedenen Themen, welche die Autorin in ihr meisterhaft recherchiertes und vielschichtiges Buch verpackt, bedauerlicherweise immer wieder verdeckt.

Es ist eine Geschichte der Gräuel des zwanzigsten Jahrhunderts, eine Familiengeschichte, eine Auseinandersetzung mit Verantwortung, Manipulation, Feigheit und Gewalt. Und die Geschichte einer Vater-Tochter-Beziehung, die Tochter auf der Suche nach der verlorenen Wahrheit über ihren Vater.

Prof. Dr. Eustachius Grolmann, bekannter Affenforscher, der sich trotz Emeritierung von seinen Bonobos nicht lösen kann, ist einer der Hauptprotagonisten dieses Romans. Ebenso wie sein Vater Hannes, der als Bäckersohn später Bankdirektor und Soldat in zwei Kriegen wurde. Der erste Krieg für den Kaiser, der zweite für Hitler. Mit Lilly, einer Tochter aus gutem Hause verheiratet. Weil das erste Kind der beiden einen Klumpfuß hat, darf der Junge nicht wie geplant Eustachius (von Eustach, die schöne Ähre) heißen und wird Emil getauft. Emil, "der Aff". Emil wäre gerne ein strammer SS-Mann in schöner, schwarzer Uniform, ist allerdings mit seinem Klumpfuß unbrauchbar.

Als Lilly erfährt, dass sie genau vierundzwanzig Stunden habe, um zu flüchten, packt sie alles in drei Pappkoffer und versteckt den Schlüssel am üblichen Platz. Damit ihr Mann Hannes bei seiner Rückkehr aus dem Krieg auch ins eigene Heim eintreten könne. Weil sie den Dackel Max weder mitnehmen, noch selbst töten, noch einfach freilassen kann, schickt sie Eustachius mit ihm zum Fleischhauer, damit dieser dem Familienhund ein würdiges Ende bereiten könne. Dieser gehorcht und löst somit Entwicklungen und Verwicklungen aus, die ihn sein ganzes Leben begleiten werden. Die Schuld, die er so durch die Befriedigung des Befehls der Mutter in einer daraus entstehenden Tat auf sich lädt, lässt ihn nicht mehr los und führt ihn schlussendlich zu den Affen. Seiner Meinung nach sind die Affen die einzigen Wesen, die man nicht manipulieren könne, die man nicht wie die Menschen zum Töten von Artgenossen animieren kann.

Erschreckend die Vergewaltigungen, die der Mutter auf der Flucht widerfahren, Nazidoktor Winsch, bis hin zum bayrischen Gendarmen Moser, den sie zwar nicht entmannt, aber ihm zumindest einen Finger abbeißen kann.

Während die Protagonisten dem Krieg und ihrer Vertreibung zwar entkommen, bis auf Emil, dessen Verschwinden erst am Ende vermeintlich geklärt ist, schaffen sie das nur mit großen persönlichen Veränderungen. Die Spuren des Krieges und der Vertreibung sind in den Innenschichten der Persönlichkeiten der Figuren zu finden. In der seelischen Dunkelkammer alleine mit seinen Erinnerungen oder auch seiner Schuld gefangen zu sein, prägt und lässt jeden, bewusst oder unbewusst, zu anderen Mitteln greifen, um mit dem Erlebten und sich selbst fertig zu werden.

Draesners Figurenzeichnung ist unterschiedlich überzeugend. Während die direkt Kriegsversehrten zum größten Teil wirklich überzeugend sind, ihre Stimmen ideale Übermittler ihrer Zustände, sind die Stimmen der jüngeren bzw. jüngsten Generation teilweise nur mehr bedingt glaubhaft, was möglicherweise auch daran liegt, dass Ulrike Draesner hier zu sehr versucht, den jüngsten Stimmen möglichst aktuelle Stimmfärbungen zu verleihen und die gerade dadurch, so absurd das klingen mag, nicht auf voller Länge lebendig werden. Bei den Alten: Andeutungen und ein Sprechen, das man bestenfalls als "Fastsprechen" bezeichnen könnte, ein Zurückziehen in das Schneckenhaus der verdrängten Erinnerung, die bereits, wie eine alte Daguerreotypie, an der Oberfläche beinahe verblasst ist.

Sehr interessant auch Simone, Eustachius' Tochter, die, ebenso wie ihr Vater, Affenforscherin ist und die ebenso an Spätfolgen der ihr meist unbekannten Wunden des Krieges leidet.

Ulrike Draesner will in ihrem äußert ambitionierten Roman sehr viel. Vielleicht auch zu viel. Eventuell ist die Wahl ihrer Mittel nicht immer glücklich, und möglicherweise gibt es auch den einen oder anderen Gewaltakt, der fest an der verankerten Glaubwürdigkeit dieser Erzählung rüttelt. Unter Umständen fesselt dieses immens komplexe und verschachtelte Stimmengeflecht, das den Roman durchzieht, auch gerade deshalb, es lässt einen nicht mehr aus dem Bann, bis man am Ende, völlig fertig, die mögliche Wahrheit über das Verschwinden Emils erfährt.

Nichtsdestotrotz, ein wichtiger und großer Roman, dessen Lektüre sehr zu empfehlen ist. Der Rezensent würde sich freuen, stünde "Sieben Sprünge vom Rande der Welt" in wenigen Wochen auf der Liste der für den "Deutschen Buchpreises" Nominierten.

(Roland Freisitzer; 07/2014)


Ulrike Draesner: "Sieben Sprünge vom Rand der Welt"
Luchterhand Literaturverlag, 2014. 555 Seiten.
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Ein weiteres Buch der Autorin:

"subsong"

"Subsong", "whisper song" oder "Plaudergesang" ist ein leiser Vogelgesang: Eine Ansammlung vertrauter Rufe und neuer Lautserien, aus dem Augenblick entstanden, aus Freude. Gedichte als Subsongs. Da wird Wortschatz weitgesungen, da dehnt die Liebe immer beides, Sprache und Herz. Subsongs sind besonders schön: sie haben keine Funktion. Es wird familiengeschwätzt, gelallt, versucht. Ohne es zu bemerken beobachtet man Poesie. Ulrike Draesner "poetisiert die Welt": Indem sie ihr ihre Töne abnimmt, sie in Sprache übersetzt. Exakt. Melodiös. Lächelnd zugewandt. (Luchterhand)
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Noch ein Lektüretipp:

Ernst-Wilhelm Händler: "Versuch über den Roman als Erkenntnisinstrument"

Literatur kann dem Menschen zu Erkenntnissen verhelfen, die die Wissenschaften nicht liefern können. Insbesondere der Roman als umfassendste Literaturgattung eröffnet uns einen forschenden Blick auf uns selbst und die Gesellschaft. Zur Klärung der Frage, was der Roman für uns leisten kann, zieht Ernst-Wilhelm Händler Ideen und Begriffe aus der Systemtheorie, der Logik, Neurologie und Robotertechnik heran. In kompakter und hochkonzentrierter Form klärt er zunächst die Voraussetzungen des menschlichen Erkenntnisstrebens - Bewusstsein, Sprache, Erinnerung, Wahrnehmung und Gefühle -, um zu einer ganz eigenen, hoch inspirierenden Kulturtheorie zu finden. (S. Fischer)
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