Marcel Atze, Kyra Waldner (Hrsg.): "Es ist Frühling und ich lebe noch"
Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs in
Infinitiven
Von Aufzeichnen bis Zensieren
Angesichts eines solchen
Prachtbands ist es so gut wie unmöglich, die richtigen Worte zu finden, dem
Dargestellten genügezutun. Der Erste Weltkrieg wurde von den Medien durch viele
gefälschte Bilder inszeniert. Nirgends waren Tote, schrecklich Zugerichtete,
Zerstörte, Zerrissene zu sehen. Auch Kriegsschauplätze wirkten eher wie schlecht
frequentierte Ferienlager. Das Aussparen der Realität zugunsten einer Bühne, die
den Krieg möglichst "freundlich" ins Bild rückte, war ein wesentlicher Faktor,
um die Sinnhaftigkeit dieses Krieges nicht aus den Augen zu verlieren.
Doch lässt sich die Wahrheit festmachen? Gibt es die Wahrheit in diesem Kontext
überhaupt? Eines steht fest: Die Wahrheit lässt sich nie objektivieren, die
Wahrheit dient nie einer Sache, bei der es keine Gewinner gibt, die Wahrheit
liegt immer im Auge des Betrachters. Und damit sind wir mitten in der
Geschichte. Menschen sind es, die diesem Krieg den Stempel aufgedrückt haben.
Individuen verschiedenster Herkunft. Wenn diese Menschen berichten, dann stellt
sich im besten Fall kein Medium dazwischen und ersucht darum, die Wirklichkeit
auszusparen. Die subjektive Wahrheit ist unbestechlich. Von solcherlei Berichten
strotzt dieses Buch. Das Spektrum ist unglaublich vielfältig. Der Leser kann nur
dann einen Eindruck gewinnen, wenn er sich ganz auf diese Thematik einlässt, die
den Krieg aus Sicht einzelner Beteiligter und eben nicht mehr oder weniger
gefälschter Medienberichte zeigt.
Für viele Menschen, insbesondere Männer, war es wesentlich, den Krieg als
Notwendigkeit zu sehen. Ein Krieg, der alles verändert. Ein Krieg, der die
Karten neu mischt. Ein Krieg, der alles in die rechte Ordnung zwingt. Es wurde
geschätzt, dass Tag für Tag, seit Beginn des Krieges, gut 50.000 Gedichte an
diverse Tageszeitungen und sonstige Medien geschickt wurden. Das ergibt satte
1,5 Millionen Gedichte pro Monat, eine unvorstellbare Zahl. Einer der besonders
"fleißigen" Proponenten war Franz Karl Ginzkey, von dem im Buch an mehreren
Stellen die Rede ist. Aber lassen wir ihn einmal selbst zu Wort kommen:
"Hurra, nun ist es an der Zeit,
Nun stehen wir all für's Reich bereit.
Wie heißt die Losung? Mann an Mann.
Wie heißt der Feldruf? Drauf und dran.
Wohlan, nun zeigen wir mit Fleiß,
Dass Oestreichs Schwert zu sausen weiß
Lieb Oesterreich allzeit hurra
Lieb Oesterreich hurra!"
Auf der einen Seite standen Millionen ewiggleicher Gedichte, die der angeblichen
"Berechtigung" des Krieges wie in einer Endlosschleife zweckdienlich sein
wollten. Auf der anderen Seite wurde in Kriegsgefangenenlagern Soldatentheater
gespielt. Ludwig Gruber war diesbezüglich wohl der bekannteste Proponent. Der
Kriegsgefangene Adolf Gaiswinkler hielt mit seiner Begeisterung nicht hinter dem
Berg.
"Die musikalischen Darbietungen konnten sich hören lassen. Beim Theater
musste man natürlich nachsichtig sein, es fehlte ja das weibliche Geschlecht.
Die jungen Kadetten und Fähnriche mit den Milchgesichtern mussten Damenrollen
spielen, und sie spielten sie nicht schlecht."
Hochinteressant übrigens, dass die Russen überhaupt nichts gegen einen Aufbau
von Soldatentheatern hatten. Da musste also keineswegs im Geheimen geprobt und
gespielt werden.
Wie klar ersichtlich ist, hat sich der Rezensent entschieden, der holden Kunst
den Hauptteil der Besprechung zu gönnen. Dieser Schwerpunkt scheint auch ein
wesentlicher Faktor des Buches zu sein. Von
Alban Berg
über Karl Kraus
bis Stefan
Zweig taucht eine Schar bekannter Künstler auf, die eine kleinere oder
größere Rolle im Ersten Weltkrieg spielten. Doch subjektiv gesehen hat den
Rezensenten das Gebet eines elfjährigen jüdischen Jungen an und für seinen Vater
besonders beeindruckt. Der Name des Jungen: Hans Weigel.
"Vater unser, der Du bist in Rußland!
Eduard ist Dein Name, komme bald
nach Deutschösterreich, bezahle unsere
Schulden, gib uns unser täglich Brot,
führe uns nicht in Versuchung, sondern
erlöse uns vom Übel des Alleinseins.
Dein Sohn Hans"
Wie schon diese drei Beispiele von Zeitzeugnissen demonstrieren, steckt "Es ist
Frühling und ich lebe noch" voller Geschichten unterschiedlichster Ausprägung
und Qualität. Den Herausgebern Marcel Atze und Kyra Waldner ist ein Kompliment
für die spannende Zusammenstellung zu machen. Der Erste Weltkrieg einmal ganz
anders und gerade deswegen glaubwürdig.
(Jürgen Heimlich; 07/2014)
Marcel Atze, Kyra Waldner (Hrsg.): "Es ist
Frühling und ich lebe noch.
Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs in Infinitiven. Von Aufzeichnen bis
Zensieren"
Residenz Verlag, 2014. 440 Seiten.
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Noch ein Buchtipp:
Hannes Leidinger, Verena Moritz,
Karin Moser, Wolfram Dornik: "Habsburgs schmutziger Krieg. Ermittlungen zur
österreichisch-ungarischen Kriegsführung 1914-1918"
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eine schonungslose Bilanz zur k.u.k. Kriegsführung im Ersten Weltkrieg.
Neue Erkenntnisse über die dunkelsten Kapitel des Ersten Weltkriegs: Die Autoren
untersuchen die Beschlüsse und Kalkulationen der habsburgischen
Entscheidungsträger. Sie zeigen, wie ohne Rücksicht auf Verluste der Krieg
entfesselt wurde, an dessen Beginn die Vernichtung Serbiens als oberstes Ziel
stand. Doch was geschah in den Besatzungsgebieten der k.u.k. Armeen? Sind
österreichisch-ungarische Streitkräfte für Kriegsverbrechen verantwortlich?
Dieses Buch wirft ein erschreckendes Schlaglicht auf Befehlsketten, Feindbilder
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Massen".
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