Judith Hermann: "Aller Liebe Anfang"
Mit den beiden Erzählbänden
"Sommerhaus, später" (1998) und "Nichts
als Gespenster" (2003) katapultierte sich die damals noch sehr junge Judith
Hermann nicht nur in die Herzen des Feuilletons, sondern auch in die einer
großen Zahl von Lesern: Leser, die üblicherweise lieber zu Romanen greifen und
die literarische Qualität von Erzählungen selten zu schätzen wissen.
In diesem Roman hat sich Judith Hermann an ein Thema gewagt, das in den letzten
Jahren für immer mehr Menschen, vor allem Frauen, zu einer schmerzhaften und
dramatischen Aktualität geworden ist, das Stalking bzw. Nachstellen, und
wie es nicht nur die gestalkte Person betrifft, sondern auch ihr
persönliches Umfeld.
Stella ist eine junge Frau und hat einen befriedigenden Beruf als Pflegerin
alter Menschen. Sie ist verheiratet mit Jason, einem Mann, den sie unspektakulär
in einem Flugzeug kennengelernt hat und der immer wieder für viele Tage auf
Montage fährt. Dann ist Stella mit ihrer kleinen Tochter Ava allein in ihrem
schönen Haus am Rande der Stadt.
So, wie sich Stella und Jason kennengelernt haben, verläuft auch ihr Leben.
Zufrieden, ökonomisch abgesichert, aber ohne große Höhepunkte.
So lange, bis eines Tages ein Mann an ihrem Gartentor steht, nachdem er
geklingelt hat: Er sagt durch die Sprechanlage: "Guten Tag. Wir kennen uns
nicht. Sie kennen mich nicht. Ich kenne Sie aber vom Sehen, und ich würde mich
gerne mal mit Ihnen unterhalten. Haben Sie Zeit."
Stella wehrt erschrocken ab. Nein, sie habe keine Zeit, auch morgen nicht. Doch
das, was der Stalker als ersten Schritt beabsichtigt, ist schon
geschehen. Er hat sich in die Gedanken seines Opfers eingeschlichen und lässt es
nicht mehr los. Zumal er in den nächsten Tagen immer wieder kommt, klingelt,
etwas in den Briefkasten wirft und dann wieder geht. Er stellt sich schriftlich
als Mister Pfister vor und wohnt nur einige Häuser weiter in der Nachbarschaft.
Stella erzählt ihrer Freundin Clara am Telefon davon. Auch Jason weiht sie ein.
Doch alle Ratschläge helfen ihr nicht wirklich weiter. Als eines Tages Jason
einen Brief von Mister Pfister aus dem Briefkasten holt, ihn liest und sie
auffordert, es auch zu tun, da passiert in ihrem Kopf etwas, wovon viele Opfer
berichten: Sie versucht zu verstehen:
"Sie sieht Jason an und fragt sich plötzlich, ob es nicht doch möglich wäre,
Mister Pfister zu verstehen. Für Jason vielleicht unmöglich, für sie aber
möglich? Sie versteht Dermot, sie verseht Julias endgültiges
Schweigen, sie
versteht Esthers Gereiztheit und Walters undeutliches Sprechen (ihre Patienten
und deren Angehörige, d. R.), sie versteht doch dieses und jenes, vielleicht
sollte sie sich einfach auf Mister Pfisters Gedankenwelt einlassen? Auf die
Andeutungen, auf den Chor der Stimmen, der aus dem Karton (in ihm hat sie alle
Botschaften Pfisters gesammelt) heraus zu vibrieren scheint. Um zu wissen, wie
Mister Pfister tickt, wie er funk-ti-o-niert."
Sie meldet das Stalking der Polizei und holt sich Rat bei einem älteren
Mann, der ihr Fahrrad repariert und direkt neben Mister Pfister wohnt. Doch
alles hilft nicht wirklich weiter. Mister Pfister setzt sein Stalking
fort, spricht Ava in der Schule an und will Stella zur Pflege seiner Mutter beim
Pflegedienst buchen,
bei dem Stella arbeitet.
Eine Lösung kommt erst ganz am Ende durch Jason, von dem man es niemals erwartet
hätte. Während Stella eher passiv alles über sich ergehen lässt, wählt er eine
radikale Lösung. Und öffnet so seiner Liebe zu Stella einen neuen Anfang ...
Mit einer knappen und dennoch reichen und schönen Sprache hat Judith Hermann die
Klippe des ersten Romans souverän gemeistert. Man mag kritisieren, dass ihre
weibliche Protagonistin (wieder einmal?) eher passiv als aktiv ihr Leben lebt,
doch das Ende des Romans, Hermanns radikale Lösung des Problems, provoziert. Es
hat mir nicht nur gefallen, sondern mich als Leser regelrecht befreit.
(Winfried Stanzick; 08/2014)
Judith Hermann: "Aller Liebe Anfang"
S. Fischer, 2014. 224 Seiten.
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Einige Bücher zum Thema:
Georg Bruns, Frank Winter (Hrsg): "Stalking - Zwischen Liebeswahn und
Strafrecht"
Die zentrale, aber verborgene Überzeugung eines jeden Stalkenden ist es,
mit einer anderen Person in einer überaus engen Beziehung zu stehen.
Stalkende behandeln ihre Opfer wie einen Selbstanteil und versuchen sie zu
kontrollieren. Eine Zurückweisung durch das Gegenüber setzt eine interaktionelle
Dynamik von Festhalten- und Entkommen-Wollen in Gang. Im Umgang mit Stalking-Delikten
haben sich die Möglichkeiten des Strafrechts als unzureichend erwiesen.
Angesichts dieses Defizits hat sich die Praxis außergerichtlicher Lösungswege
für Stalking-Fälle entwickelt, die den Blick gleichermaßen auf
Stalkende wie auf Opfer richtet.
Das Buch führt über juristische, sozialwissenschaftliche und
psychologisch-psychoanalytische Beiträge in die Komplexität des Themas ein. Mit
zahlreichen Fallbeispielen aus Beratung und Behandlung veranschaulichen die
Autoren und Autorinnen seelische Konfliktkonstellationen, sodass diese auch für
Laien verständlich werden.
Mit Beiträgen von Lorenz Böllinger, Georg Bruns, Heinfried Duncker, Frauke
Dziomba, Astrid Hirschelmann, Eduard Matt, Valeska Meine, Svenja Taubner,
Gabriele Treu und Frank Winter. (Psychosozial-Verlag)
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Silvia Meixner: "Gestalkt
- Tagebuch der Angst. Wie ich mich
gegen meinen Verfolger zur Wehr setze"
Der Horror beginnt mit einer Morddrohung auf ihrer Mailbox. Ein
Unbekannter kapert ihre Internetidentität, verfasst unter ihrem Namen
Postings und erstellt eine Netzseite, auf der er sie als Prostituierte
anpreist. Silvia Meixner wurde Opfer eines Stalkers. Die Polizei ist
hilflos, die Gesetzeslage dehnbar wie Kaugummi. Doch eines Tages beginnt Silvia
Meixner sich zu wehren: Sie spricht offen mit Bekannten über ihre Lage, führt
akribisch Buch über die Taten des Stalkers und wagt sich nun damit an die
Öffentlichkeit. Erschütternd, mutig, stark - ein Tagebuch der Angst, aber auch
eines der Befreiung. (Heyne)
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Jason Starr: "Stalking"
Der Mann, der Katie Porter folgt, wohin auch immer sie geht, ist nicht ihr
Freund Andy. Der ist viel zu sehr mit seiner Arbeit beschäftigt - und mit der
Frage, ob er nicht auch noch bei anderen Frauen landen könnte. Aber ein Anderer
hat bereits entschieden, dass Katie die Frau seiner Träume ist, denn er
beobachtet sie schon seit einiger Zeit. Er verfolgt sie, Tag für Tag,
unermüdlich und unauffällig. Aber vor allem sieht er sie als Heldin seiner
Zukunft, die Frau, mit der er seinen Traum von der großen Liebe wahrmachen wird.
Jetzt, wo er sie endlich wiedergefunden hat, wird er doch nichts mehr
dazwischenkommen lassen ...
Die Kombination von rasiermesserscharfen Dialogen, schwarzem Humor und tödlicher
Spannung jagt einem einen Schauer nach dem anderen über den Rücken. (Diogenes)
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