Andrej Kurkow: "Jimi Hendrix live in Lemberg"
"Der
Mythos ist immer wichtiger als die Wahrheit", bemerkt ein
Schriftsteller gegen Ende dieses Romans, und das ist in Andrej Kurkows
Büchern sicherlich der Fall.
Diesmal stellt der Autor vier Figuren, die in Lemberg leben, einer
ukrainischen Stadt, die ziemlich weit im Inland liegt, in zwei
großen miteinander verknüpften
Handlungssträngen vor. Einer der Protagonisten ist ist der
Althippie Alik, der zu Beginn des Romans mit einigen Anderen an einer
Gedenkstätte steht, in der gerüchteweise eine nach
Lemberg geschmuggelte Hand des Kultgitarristen Jimi Hendrix beerdigt
sein soll - eine Rockreliquie, die litauische Fans in die Ukraine
geschmuggelt haben sollen. Da stößt es ihm und den
Anderen schon ein wenig bitter auf, als der zweite Hauptcharakter
dieses Buchs, der ehemalige KGB-Hauptmann Rjabzew, der dereinst
zunächst für die sowjetische und später
für die ukrainische Regierung die Hippie-Szene observiert hat,
ihnen mitteilt, dass einige Rockfans im KGB hinter dieser ganzen Aktion
gesteckt haben sollen. Nun drängt es Rjabzew, der in erster
Linie mit seinen
Tauben lebt, danach, vergangenes Unrecht wiedergutzumachen, und er hat
sich dabei insbesondere den als Beleuchter arbeitenden Alik
herausgesucht.
So beginnt eine überaus seltsame, aber doch innige
Freundschaft, während in der Binnenstadt Lemberg scheinbar das
Meer Einzug hält, was bei vielen Menschen heftige
körperliche Reaktionen hervorruft.
Der dritte Handlungsträger und die Kernfigur des zweiten
Handlungsstrangs ist Taras, ein "abgebrochener" Mediziner, der sich
darauf spezialisiert hat, auf höchst ungewöhnliche,
aber auch sehr erfolgreiche Art und Weise Nierensteine zu entfernen. Da
seine Methode sowohl tages- als auch jahreszeitenabhängig
funktioniert, trifft er in den frühen Morgenstunden an der
Geldwechselstube oft die junge Darja, wenn er seine Dollar, Zloty oder
Rubel gegen ukrainische Hrywni eintauscht. Und nach und nach beginnt er
sich in die junge Frau zu verlieben, die bei der Arbeit und auch sonst
immer Handschuhe tragen muss, weil sie schwer allergisch auf Geld
reagiert. Daneben muss er sich auch immer wieder mit seinem seltsamen
Nachbarn Jerzy Astrowski herumschlagen, der ihn wegen einer lauten
Treppenstufe in seinem Absatz nervt. Und dann gibt es da noch seine
gute, aber schon etwas ungewöhnliche Freundin Oxana, eine
Schauspielerin und Menschenfreundin, die es sich zum Ziel gemacht hat,
Taras' Leben zu verbessern, weswegen sie ihm zum Geburtstag ein
Aquarium mit Fischen schenkt, wie sie es sich selbst gerade erst
zugelegt hat.
Diese Aquarien locken bald einige übergroße
Möwen an, die rätselhafterweise in letzter Zeit in
Lemberg aufgetaucht sind und immer dann, wenn ein Geruch nach Meer und
Gischt in der Luft liegt, erscheinen und in bestimmten Gegenden der
Stadt Menschen angreifen und schwer verletzen. Gleichzeitig kommt es in
den Zonen dieser Angriffe bei den dort lebenden Menschen immer wieder
zu Panikattacken und schweren Herzproblemen.
Alik, Rjabzew, Taras und die Anderen nehmen schließlich
Kontakt mit einer Behörde für paranormale
Erscheinungen auf, um diese Phänomene zu ergründen,
aber es zeigt sich, dass gerade Taras dafür zunehmend
ungeeignet ist.
Erstaunlich viele der Charaktere dieses Buchs leben zu Beginn der
Geschichte ein eher einsames aber zufriedenes Leben. Ganz anders, als
man es sonst aus Kurkows Romanen kennt, versuchen sie sehr oft, dem
Alkohol auszuweichen - obwohl dies an einigen Stellen dennoch nicht zu
vermeiden ist. Aber diesmal hat das wirklich einen anderen Sinn, als
einfach nur betrunken zu werden.
Kurkows Romane zeichnen sich immer durch einen interessanten magischen
Realismus aus, aber bisher ist dieser noch nie so
leichtfüßig und tänzelnd in Erscheinung
getreten wie in "Jimi Hendrix live in Lemberg". Auch wenn die
weiblichen Figuren im Endeffekt meist unterzeichnet wirken, so hat man
doch durchaus das Gefühl, diese über die Reflektion
durch die Gedanken und Gefühle der Männer gut
kennenzulernen, und man fliegt geradezu durch die Seiten, deren letzte
am Ende doch viel zu früh kommt.
(K.-G. Beck-Ewerhardy; 10/2014)
Andrej
Kurkow: "Jimi Hendrix live in Lemberg"
Aus dem Russischen von Sabine Grebing und Johanna Marx.
Diogenes, 2014. 405 Seiten.
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Ein
weiteres Buch des Autors:
"Ukrainisches Tagebuch. Aufzeichnungen aus dem Herzen des Protests"
Rund zehn Jahre nach der Orangen Revolution blickt die Welt wieder
gebannt auf die Ereignisse in der Ukraine:
wochenlange Demonstrationen auf dem Kiewer Majdan-Platz, die Eskalation
der Gewalt, die Annexion der Krim durch Russland, die drohende Spaltung
des Landes - aber wie ist es dazu gekommen? Und wie wird es weitergehen?
Andrej Kurkow lebt wenige Gehminuten vom Majdan-Platz entfernt und hat
das Geschehen Tag für Tag hautnah miterlebt. In diesem
hochaktuellen Buch liefert er eine sehr persönliche Chronik
der Ereignisse in seiner Heimat und schildert die Tage des Umbruchs
jenseits gängiger Klischees. Zudem beleuchtet er
schlaglichtartig die wechselvolle Geschichte der Ukraine und
porträtiert die handelnden Personen - Majdan!, wie es wirklich
war. (Haymon)
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Weitere Buchtipps:
Jurij
Wynnytschuk: "Im Schatten der Mohnblüte"
Ein Ukrainer, ein Deutscher, ein Pole, ein Jude. Die Heimat der vier
jungen Freunde, das multikulturelle Lemberg der 1930er-Jahre, ist ein
bunter Ort voller bezaubernd kurioser Figuren - von der
Großmutter, die leidenschaftlich als professionelles
Klageweib arbeitet, bis hin zur uralten Bibliothekarin, die nicht
sterben kann, bevor ihr Verlobter nicht aus den mystischen Tiefen der
Regalreihen zurückgekehrt ist. Mit der Ankunft der Sowjets und
später der Nazis wandelt sich die Stadt in einen
düsteren Ort. Inmitten der Kriegswirren hinterlässt
eine schicksalhafte Melodie Spuren, die bis in die Gegenwart
führen: der Todestango. Auf geheimnisvolle Weise bringt er die
Erinnerung an ein früheres Leben zurück und macht so
möglich, dass geliebte Menschen sich wiederfinden
können - dort, wo der Mohn tanzt.
"Im Schatten der Mohnblüte" ist eine bewegende Geschichte
über Freundschaft, Ideale und Rückgrat im Angesicht
größter Grausamkeit, die zeigt, dass Schatten stets
auch Licht bedingt.
Jurij Wynnytschuk, geboren 1952 in Ivano-Frankiwsk/Ukraine, ist einer
der bekanntesten ukrainischen Autoren. Sein Schaffen war und ist
prägend für andere Schriftsteller des Landes.
Aufgrund der politischen Verhältnisse konnte er seine Arbeiten
bis 1990 nicht unter eigenem Namen veröffentlichen. Seit 1990
zahlreiche Publikationen, unter anderem "Divy Notschi" ("Diven der
Nacht", 1992) und der Roman "Tango Smerti", welcher bereits in mehrere
Fremdsprachen übersetzt wurde und nun auch auf Deutsch
vorliegt. (Haymon)
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Andreas
Kappeler: "Kleine Geschichte der Ukraine"
Dieses Buch informiert über die wichtigsten Ereignisse und
Zusammenhänge der ukrainischen Geschichte.
Es setzt der vorherrschenden russozentrischen Perspektive eine
ukrainische gegenüber und versucht gleichzeitig, ukrainische
nationale Mythen kritisch zu überprüfen. Dabei wird
nicht nur die Geschichte der Ukrainer vom Mittelalter bis zur Gegenwart
dargestellt; auch die Geschichte der in der Ukraine lebenden Polen,
Russen, Juden und Deutschen wird mir berücksichtigt. Das Buch
wurde für die Neuauflage aktualisiert und bis in die
unmittelbare Gegenwart fortgeführt. (C.H. Beck)
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Christan
Wehrschütz: "Die Ukraine. Spielball zwischen Moskau,
Washington und Brüssel"
Als die Sowjetunion Ende 1991 zerfiel, kehrte damit auch ein Staat auf
die Weltbühne zurück, der in Europa sieben Jahrzehnte
nicht bestanden hatte - die Ukraine. Wenige Jahre sogar die
drittgrößte Atommacht der Welt, hat sich das
wirtschaftlich vielfach rückständige Land auch 23
Jahre nach der Unabhängigkeit noch nicht zu einem eigenen
politischen Kraftzentrum in Osteuropa entwickeln können. Wie
auch die jüngste Krise beweist, ist Kiew weiterhin ein
Spielball zwischen Moskau, Washington und Brüssel.
Christian Wehrschütz skizziert in seinem Buch die historische
Entwicklung des Landes, das ein Resultat des Zerfalls dreier Imperien
ist. Er schildert die sozialen, religiösen und
wirtschaftlichen Gegensätze zwischen dem Westen und dem Osten
des Landes, beschreibt aus eigener Anschauung die Krim-Krise, die zum
Anschluss an Russland führte, und porträtiert die
Stadt Tschernowitz, das Klein-Wien der Monarchie, ebenso wie den
Nationaldichter Taras Schewtschenko, dessen 200. Geburtstag im Jahr
2014 in der Ukraine gefeiert wird. Der Autor lebte zwischen 1992 und
1999 in verschiedenen Landesteilen, spricht Russisch und Ukrainisch. Er
ist davon überzeugt, dass die Ukraine wegen ihrer
geopolitischen Lage von zentraler Bedeutung für Europa ist und
dereinst einen Platz als EU-Mitglied haben sollte. (Styria Premium)
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Helmut
Braun (Hrsg.): "Czernowitz. Die Geschichte einer untergegangenen
Kulturmetropole"
Wenn man heute in das südukrainische Tscherniwzy kommt, muss
man einige Mühe aufwenden, um die Spuren der untergegangenen
Kulturmetropole Czernowitz
zu entdecken. Die Heimatstadt von Paul Celan und Rose
Ausländer ist nach dem Zweiten Weltkrieg weitgehend
umgestaltet worden und dem Vergessen anheim gefallen.
Doch manch steinerne Zeugnisse erinnern noch heute an das "Goldene
Zeitalter" der Vielvölkergemeinde, als Czernowitz die
pulsierende Hauptstadt des Kronlandes Bukowina war und stolz den
Beinamen "Klein-Wien des Ostens" trug. Keine der fünf
Bevölkerungsgruppen hatte die Mehrheit, weshalb Deutsche,
Juden, Ukrainer, Rumänen und Polen ihre Zusammenlebensform
immer wieder aushandeln und auf Kompromissbereitschaft gründen
mussten - bis die Stadt zum Spielball der Großmächte
wurde, am Ende des Ersten
Weltkrieges ebenso wie zu Beginn des Zweiten
Weltkrieges.
Sechs Autoren erzählen von der bewegten Vergangenheit und
schwierigen Gegenwart dieser Stadt, die ihre kulturellen Wurzeln wieder
entdeckt und sich um einen Brückenschlag nach Westeuropa
bemüht. In mehr als 100 Fotos wird sichtbar, welche
Schätze es hier zu entdecken gibt. (Ch. Links)
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