Saša Stanišić: "Vor dem Fest"
Ein eigenartig fesselndes
Zauberspiel
Der 1978 im bosnischen Višegrad
geborene und in Deutschland lebende Erzähler Saša Stanišić hat nun, eine
gefühlte Ewigkeit (es war 2006) seit seinem herrlichen Debütroman "Wie der
Soldat das Grammofon repariert", einem wirklich originellen Schelmenroman in
bester Tradition, endlich einen Nachfolger veröffentlicht. Mit diesem hat er
dann gleich auch den "Preis der Leipziger Buchmesse geholt". Verdient.
Vorweg, eine lineare Geschichte, die aus allen Blickwinkeln erklärbar ist, die
wird hier nicht erzählt. Dafür nimmt Saša Stanišić den Leser mit auf eine Reise
in die Uckermark, die sich in Brandenburg befindet. Genauer, nach Fürstenfelde.
Eine allerdings erfundene Stadt, die höchstwahrscheinlich eine gelungene
Synthese verschiedener Städte der Gegend darstellt.
Nach dem Schelmenroman aus der
Zeit des Krieges geht es nun in die Provinz. Auf den Spuren von Theodor Fontane
findet er ganz andere Objekte und Geschehnisse, was "Vor dem Fest" zu einem
wirklich surreal-absurd-heiteren Roman werden lässt.
Fürstenfelde, zwischen zwei
Seen gelegen, ist das, was man optimistisch betrachtet als aussterbende Stadt
bezeichnen könnte. Die Gasthäuser haben fast alle zugesperrt, auf ein Bier
trifft man sich in der Garage, bei Ulli, wo man die Gläser selbst auswaschen
muss. Auch die Tankstelle hat längst an die schleichende Verwesung glauben
müssen, wo nicht genügend Umsatz vorhanden ist, gibt es auch keinen Treibstoff.
Auf eine spielerisch lakonische
Art und Weise werden die Figuren an den Leser herangeführt, immer weiter taucht
man, nach dem anfänglichen Kapitel mit dem Tod des Fährmanns, ins dörfliche
Leben und Treiben ein. Viel zu tun gibt es in Fürstenfelde nicht, dadurch haben
alle Bewohner viel Zeit, ihren skurrilen, vom Autor zugedachten Neigungen
nachzugehen.
"Wir sind traurig. Wir haben keinen Fährmann mehr. Der Fährmann ist tot.
Zwei Seen, kein Fährmann. Zu den Inseln gelangst du jetzt, wenn du ein Boot
hast. Oder wenn du ein Boot bist. Oder du schwimmst. Aber schwimm mal, wenn die
Eisbrocken in den Wellen klacken wie ein Windspiel mit tausend Stäben."
Der festliche Höhepunkt des
Jahres ist das Annenfest. Und Saša Stanišićs Roman setzt am Vorabend
des Festes ein, der Fährmann stirbt, es wird im Volkskundemuseum eingebrochen,
Erinnerungen an Sagenwelten, Räuber, Pest- und Feuerkatastrophen vermischen sich
mit dem Geschehen. Die Geschichte lastet schwer auf den Schultern der ohnehin
recht labilen Protagonisten. Nichtsdestotrotz ist das alles mit einer gehörigen
Portion Humor gewürzt, sodass das Schwere, das Germanische nie die Überhand
gewinnt in diesem Zauberspiel der Skurrilität.
Unter den eigenwilligen
Bewohnern findet sich zum Beispiel Lada. Der halbstarke, nach der sowjetischen
Automarke benannten Jungspund versenkt von Zeit zu Zeit seine Autos im See, weil
er so vielleicht einmal bei "Wetten, dass ..." mitmachen könnte. Oder Uwe
Hirtentäschel, der Drogensüchtige. Oder sein Freund Johann, der
Möchtegern-Glöckner.
"Johann klopfte sachte einen
Rhythmus auf seinen Oberschenkel. Morgen hat er seine Glöckner-Prüfung. Er hat
eine kleine Melodie extra für das Fest komponiert und wird sie mit den Klöppeln
schlagen. Beiern nennt sich das. Lada und Suzi wissen davon nichts. Ist besser
so, sonst gibt es wieder blöde Sprüche."
Oder die sehr alte Frau Kranz,
die sich als selbsternannte Chronistin des Dorfes sieht. Sie hält das Geschehen
in Bildern fest, die Titel wie "Der Neonazi schläft" haben. Nazis gibt es in
Fürstenfelde natürlich auch, und zwar genau eineinhalb. Rico, der ganze Nazi.
Seine Freundin Luise nur eine halbe Nazi, weil sie "den ganzen Scheiß ja nur
Rico zuliebe macht."
Dann wäre da noch der ehemalige
Offizier Schramm, der nicht nur dem Tod des Öfteren ins Auge geblickt hat,
sondern auch mehr Gründe gegen das Leben kennt als der Tod selbst. Und dann auch
noch Anna, die ihm Fragen stellt und ihn vom Suizid abhalten will.
Passenderweise heißt die
Verwalterin des Dorfarchivs Frau Schwermuth. Johanna, die Dank ihres
allumfassenden Wissens über das Dorf leidet. Natürlich wird sie davon auch
verrückt, wer würde da nichtverrückt werden? Dann ist da noch die Fähe, die
Füchsin, die auch erzählt, was es da so alles zu erzählen gibt. Über die
Problematik des Eindringens in den Hühnerbau oder die schwierigste Sache
überhaupt, den "Überfall" auf den Eiertransport. Die Welpen wollen gefüttert
werden.
"In den Straßen dieser Nacht gibt es Missetat, aber kein
Unrecht. Gibt es Irrtum, aber keinen Fehler. Gibt es das Gericht und kein
Urteil. Gibt es nur noch Wind und keinen Regen mehr."
Wer da jetzt in Richtung Ulk,
Albernheit oder Ähnliches deutet, der soll innehalten. Was dieses Dorfleben
nämlich so spannend macht, ist Saša Stanišićs Sprache, die sich als extrem
wandelbar, die vom Altertümlichen bis zum jugendlich Dreisten alle Facetten
aufzeigt und somit allen Zeiten und Ebenen die passenden Worte zur Verfügung
stellt. Da wird sogar der Feind der Provinz zum Freund. Ach, und dann wäre da
noch das erzählende Wir, das den Leser vor ein kleines Rätsel stellt.
Aber Rätsel, vor allem ungelöste, gibt es in diesem Roman einige. Nur muss nicht
jedes Rätsel gelöst werden, schon gar nicht im Leben und in der Literatur,
ungefähr so hat es
Gabriel García Márquez einmal in einem Interview gesagt.
"Vor
dem Fest" ist ein guter Beweis dafür, dass er Recht hatte. Absolute Empfehlung.
(Roland Freisitzer; 04/2014)
Saša Stanišić: "Vor dem Fest"
Luchterhand Literaturverlag, 2014. 316 Seiten.
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