John Burnside: "Haus der Stummen"
Im
Kopf eines Psychopathen
John Burnside ist wahrscheinlich Schottlands bedeutendster Lyriker und
einer der interessantesten Schriftsteller Großbritanniens.
Allerdings leidet die Rezeption seiner Romane vermutlich daran, dass
sie allesamt in dem Bereich angesiedelt sind, den man zwischen den
berühmten Stühlen finden kann. Die in deutscher
Sprache erschienenen Romane "Die Spur des Teufels", "Glister" und "In
hellen Sommernächten" eint ein latenter Hang zum Morbiden, zum
Bösen, zur kranken Psyche. Allerdings ist keines dieser
Bücher auch nur entfernt ein Krimi, von dessen genrebehafteten
Klischees sich die großartige Prosa John Burnsides deutlich
distanziert. Das könnte für Nichtkrimileser genauso
unattraktiv sein, wie für eingefleischte Krimileser.
"Haus der Stummen" ist John Burnsides erster Roman, der bereits die
Linie anzeigt, die in den meisten der späteren Romane
richtungsweisend sein wird.
Ausgangspunkt für den Roman ist das überlieferte
Experiment von Akbar dem Großen, der beweisen wollte, dass
das Vermögen des Sprechens dem Menschen nicht automatisch
gegeben ist. Er ließ ein Haus bauen, in das er eine
größere Zahl von Säuglingen bringen
ließ, die von stummen Ammen aufgezogen wurden. Stumm und
hilflos sollen die Kinder, die nie ein Wort gehört hatten,
durch das Haus der Stummen geirrt sein.
Luke, der Ich-Erzähler des Romans von John Burnside, ist ein
Psychopath. Anders kann man seinen Geisteszustand nicht beschreiben.
Lakonisch, trocken, erzählt er seine Geschichte, die
für den Leser nach der Tötung der Zwillinge beginnt.
"Niemand kann behaupten, es hätte mir freigestanden,
die Zwillinge zu töten, so wenig wie es mir freistand, sie auf
die Welt zu bringen. Jedes dieser Ereignisse war unvermeidlich, ein
Faden im Gewebe dessen, was man mangels eines besseren Wortes Schicksal
nennen mag - ein Faden, den weder ich noch sonst jemand hätte
entfernen können, ohne das gesamte Bild zu entstellen."
Mit diesen Worten und der darauffolgenden Beschreibung des Experiments
und der finalen Operation, die zum Tod der Zwillinge geführt
hat, beginnt der Roman, der dem Leser einen glaubhaft schaurigen
Einblick in die gestörte Psyche eines Psychopathen erlaubt.
Ein Protagonist, der es nicht akzeptiert, "von Freiheit oder
Bestimmung zu reden, da dies suggeriert, es gebe etwas
außerhalb von einem selbst, das das Leben bestimmte".
Dem widersprechend, eignet er sich nichtsdestotrotz das Recht an,
über andere Leben als bestimmendes Organ zu entscheiden.
Da es John Burnside nicht um die Zuschaustellung des Grauens geht,
beschäftigt sich der Großteil des Romans mit der
Jugend und dem Heranwachsen des Ich-Erzählers. Genau hier
liegt die Stärke dieses Textes, der mit Horror- und
Trivialreißern nicht das Geringste zu tun hat.
Da er es für notwendig hält, alles zu
erzählen, was seit dem Tag vor dreißig Jahren
passiert ist, als er sprechen gelernt hat, schreibt er eine Art
autobiografischen Bericht, der zu diesem Roman wird. Literarisch
souverän zeichnet Burnside die Entwicklung des Protagonisten,
der sich als auserwählt betrachtet und alle Personen, denen er
begegnet, nur so lange anerkennt, wie sie ihm wichtig erscheinen. Wenn
die Notwendigkeit nicht mehr gegeben ist, wird er sie los oder
quält sie. Schon als kleiner Junge und dann als Jugendlicher
beschäftigt er sich mit dem Quälen von Tieren,
Vivisektionen und kaltblütigen Gewaltakten, sowie mit
ritualisierten Sexspielchen: alles unter dem Motto der vermeintlichen
Forschung.
"Was hätte ich nicht darum gegeben, in ihrem Kopf
sein zu können, während sie schlief, nur für
eine Weile. Ich glaube, lieber als ihre Gedanken hätte ich
ihre Träume gesehen ... In mancherlei Hinsicht ging ich davon
aus, dass Lillian keine vernunftbestimmte Kreatur war: Sie betrachtete
Bilder, schaute fern, weinte bei traurigen Sendungen, lächelte
angesichts sentimentaler oder ästhetischer Aufnahmen, doch
deutete nur sehr wenig auf verstandesmäßige
Reaktionen hin."
Auch die sehr eigenartige Mutterbindung, die Luke genüsslich
bis ins Detail vor dem Leser ausbreitet, ist alles Andere als leicht
verdaulich.
Durch die Distanz, die sich aus der lakonisch kalten
Erzählweise ergibt, erhält der Leser einen extrem
direkten Zugang, der das Erzählte noch eindringlicher wirken
lässt. Die Übersetzung von Bernhard Robben ist zwar
großartig gelungen, kommt aber an die sprachliche
Qualität des Originals nicht ganz heran, was allerdings daran
liegt, dass John Burnside im Original, (das der Rezensent ebenfalls
gelesen hat), noch vielschichtiger, differenzierter erscheint, als er
das hier schafft.
Absolute Empfehlung, allerdings nicht für zartbesaitete Leser.
(Roland Freisitzer; 02/2015)
John
Burnside: "Haus der Stummen"
(Originaltitel "The Dumb House")
Übersetzt
von Bernhard Robben.
Knaus, 2014. 251 Seiten.
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John
Burnside, geboren 1955 in Schottland,
ist einer der profiliertesten Autoren der europäischen
Gegenwartsliteratur. Der Lyriker und Romancier wurde vielfach
ausgezeichnet, unter Anderem mit dem "Corine-Belletristikpreis" des
"ZEIT"-Verlags, dem "Petrarca-Preis" und dem "Spycher-Literaturpreis".
Weitere Bücher des Autors:
"Die Spur des Teufels"
Eines Nachts, so erzählen sich die Bewohner des schottischen
Küstenortes Coldhaven, entstieg der Teufel dem Meer und
wanderte durch ihr schlafendes Städtchen. Seither nistet das
Böse in ihrer Mitte. Michael Gardiner kennt die dunklen Seiten
Coldhavens. Als Kind zog er mit seinen Eltern, einem
Künstlerpaar, hierher. Von Anfang an war er der
Außenseiter und wurde von den Mitschülern
gequält. Dann ließ er sich mit einem
Mädchen aus dem Dorf ein. Jahre später begeht dieses
Mädchen auf erschreckend brutale Weise Selbstmord, und in
Michael werden dunkle Erinnerungen wach ... (btb)
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"In
hellen Sommernächten"
Hoch oben im Norden, wo im Sommer das weiße Licht alle
Konturen verwischt, ertrinken auf rätselhafte Weise junge
Männer. Hat, wie es die Sage behauptet, die rotgewandete
Waldfee Huldra ihre Hand im Spiel? Gelingt der stillen Liv die
Lösung des Rätsels, oder verliert auch sie sich in
einer Zwischenwelt aus Fantasie und Realität? In seinem Roman
erzählt John Burnside von unheimlichen Begebenheiten und folgt
der Poesie einer betörenden Landschaft. (btb)
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"Lügen
über meinen Vater"
Der Vater war ein Nichts. Als Säugling auf einer
Türschwelle abgelegt. Zeitlebens erfindet er sich in
unzähligen Lügen eine Herkunft, will Anerkennung und
Bedeutung. Er ist brutal, ein Großmaul, ein schwerer Trinker,
ein Tyrann. Seine Verachtung zerstört alles, die Mutter, die
Familie, John. Dieser hat als junger Mann massivste Suchtprobleme,
landet in der Psychiatrie und erkennt in den eigenen Exzessen den
Vater. Am Ende wünscht John Burnside seinem Vater nur noch den
Tod. Er hat für den Mann, der über Jahre die Familie
terrorisiert, einzig Hass übrig. Doch er verbirgt seine
Gefühle und schweigt. Erst die Entdeckung der Welt der
Literatur eröffnet ihm eine Perspektive. (btb)
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"Glister"
Erst verschwindet ein Junge spurlos, dann weitere. Doch niemand scheint
beunruhigt. Schon lange kümmern sich die Erwachsenen nicht
mehr um ihre Kinder, zu sehr sind sie mit sich und ihren Sorgen
beschäftigt. Einst lebten sie in einer blühenden
Stadt - doch dann siegten Egoismus und grenzenlose Gier. Nun ist alles
vergiftet und ohne Hoffnung. Ist es da nicht verständlich,
dass die Jungen, die noch eine Zukunft sehen, einfach abhauen? Die
Einwohner wollen diese Version glauben und gehen zur Tagesordnung
über. Nur der Polizist Morrison hat etwas Schreckliches
gesehen - und schweigt. Er hat seine Seele längst verkauft.
Doch die Kinder der Stadt weigern sich, ihre Freunde verloren zu geben.
(Knaus)
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Weitere
Buchtipps:
Kevin Dutton: "Psychopathen. Was man von Heiligen, Anwälten
und Serienmördern lernen kann"
Natürlich sind Sie kein Psychopath. Vielleicht sind Sie eine
Führungskraft oder ein sehr spiritueller Mensch. Sie haben
Charme, Sie sind unerschrocken und risikofreudig, können harte
Entscheidungen treffen. Sie sind sehr aufmerksam und können
sich gut auf ein Ziel konzentrieren. Sie werden feststellen, dass das
Eigenschaften sind, die Sie mit Psychopathen teilen. Selbstredend sind
diese Eigenschaften nützlich, wenn man ein
Serienmörder werden will. Aber auch im Gerichtssaal, in der
Wirtschaft oder im Operationssaal. Oder im Leben eines Heiligen. Jede
Medaille hat zwei Seiten.
Psychopathen gelten landläufig als schwer gestörte
Menschen. Zur Einschätzung von solchen
Persönlichkeiten wird die "Psychopathy Checklist",
kurz PCL, eingesetzt. Wer mehr als 75 Prozent der Merkmale
erfüllt, gilt als Psychopath. Es ist nicht
überraschend, dass sich die größte Dichte
an Psychopathen in den Hochsicherheitstrakten findet. Aber nicht nur
Kriminelle, sondern sehr viele "normale" Menschen haben das eine oder
andere Merkmal von dieser Liste. Und einige wirken keineswegs
zerstörerisch, sondern dienen der Gesellschaft, indem sie
besondere Aufgaben besonders gut erfüllen.
Nach Ansicht von Kevin Dutton kann man sich also sehr wohl fragen, was
man von Menschen lernen kann, die solche Eigenschaften besitzen und sie
nicht zerstörerisch, sondern konstruktiv einsetzen. Dazu muss
man sich mit ihm in eine psychologische Achterbahn begeben und
eintauchen in eine eigene Welt, die bevölkert ist von
Verbrechern, Helden, Bankiers, Anwälten und Filmschauspielern.
Die neuesten Erkenntnisse der Forschung sind eingebettet in eine
Fülle von Fallbeispielen, Anekdoten und Begegnungen, die Kevin
Dutton bei der Arbeit an "Psychopathen" erlebt hat.
Ein provozierender Blick auf die hellen und dunklen Seiten der
Psychopathen. (dtv)
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James
Fallon: "Der Psychopath in mir"
Über 40 Jahre hinweg war James Fallon allem Anschein nach ein
ganz normaler Mensch. Der erfolgreiche Neurowissenschaftler und
Universitätsprofessor war in einer liebevollen Familie
aufgewachsen, hatte seine Schulfreundin früh geheiratet, drei
Kinder mit ihr bekommen und erfreute sich schon immer eines
großen Freundeskreises. Doch dann musste er sich einer
schockierenden Erkenntnis stellen, die ihn zwang, sein Selbstbild sowie
seinen Standpunkt als Wissenschaftler komplett zu hinterfragen: Sein
Gehirn weist die typischen Strukturen eines Psychopathen-Hirns auf.
Nach dieser Entdeckung begibt er sich auf eine Reise in seine
Vergangenheit, befragt Familie, alte Freunde und Schulkameraden nach
Auffälligkeiten in seinem Verhalten. Außerdem
erfährt er, dass es unter seinen Vorfahren zahlreiche
Mörder gab - eine Bestätigung, dass Fallons eigener
Gehirnscan kein Zufallsbefund war. Doch wie konnte er, ein
erfolgreicher Wissenschaftler und glücklicher Familienvater,
der niemals gewalttätig geworden war, ein Psychopath sein?
Wäre er zu vergleichbaren Verbrechen fähig wie die
Serienmörder, mit denen er sich auseinandergesetzt hatte? Wie
sehr beeinflusste die Biologie sein Verhalten? Wie sehr sein soziales
Umfeld?
Fallon analysiert seine persönlichen Erfahrungen mit dem Blick
des Wissenschaftlers und schildert die spannende Entdeckungsreise, an
deren Ende ihm klar wird, dass der
Mensch allen wissenschaftlichen Erkenntnissen zum Trotz ein
weit komplexeres Wesen ist, als wir es uns vorstellen können.
(Herbig)
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Adrian
Raine: "Als Mörder geboren. Die biologischen Wurzeln von
Gewalt und Verbrechen"
Psychopathen haben eines gemeinsam: Ihre Gehirne ähneln sich
in bestimmten Bereichen, und sie unterscheiden sich nachweislich von
nicht gewalttätigen Menschen. Zu dieser weitreichenden These
kommt der Neurokriminologe Adrian Raine in seiner fulminanten neuen
Sicht des Verbrechens.
Warum rauben, vergewaltigen und töten manche Menschen ohne das
geringste Anzeichen von Reue? Adrian Raine, einer der
führenden Kriminologen unserer Zeit, erforscht seit
Jahrzehnten die biologischen Grundlagen des Verbrechens, und seine
Ergebnisse sind spektakulär: Mit den neuesten Methoden der
Neurowissenschaften sind bei vielen Gewaltverbrechern Abweichungen in
den Arealen des Gehirns nachweisbar, welche die Gefühle
steuern. Gibt es also das Mörder-Gen? Ja, doch die
tröstliche Einschränkung lautet: Die Entwicklung zum
Psychopathen ist keine zwangsläufige. Weil das menschliche
Gehirn flexibel und äußerst lernfähig ist,
können gezielte Therapien und förderliche
Umweltbedingungen gegensteuern. Das Buch wird unsere Sicht auf das Böse
in der Welt verändern. (Klett-Cotta)
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