Heinrich Steinfest: "Das grüne Rollo"
Heinrich
Steinfest, am 10. April 1961 geboren, hat sich mit "Das grüne
Rollo" auf anspruchsvolles Terrain gewagt und eine
verblüffende Geschichte vorgelegt.
Steinfests Roman "Der Allesforscher" befand sich anno 2014 unter den
sechs Finalisten der für den "Deutschen Buchpreis" Nominierten
(die Auszeichnung erhielt damals Lutz Seiler für "Kruso").
"Das grüne Rollo" ist in drei Großkapitel
untergliedert: "Das grüne Rollo - der erste von
zwei, womöglich drei Teilen" (S. 7-137), "40
Jahre später oder Furcht und Schrecken" (S.
141-268), "Der womöglich dritte Teil. Ein kurzer
Bericht über das Leben des Theo März,
verfaßt von seinem späteren Hausarzt Dr. Winter"
(S. 271-288).
Aufgrund dieser interessanten Konstruktion ergeben sich
Interpretationsspielräume, ein spannendes Abenteuer einerseits
und eine beklemmende Geschichte andererseits.
Theo März ist zehn Jahre alt, als der vor seinem
Kinderzimmerfenster montierte Sichtschutz ein Eigenleben entwickelt:
Jede Nacht, pünktlich um 2 Minuten nach 23 Uhr, erscheint "das
grüne Rollo", offensichtlich ein Portal in eine andere Welt,
das den Icherzähler magisch-unwiderstehlich anzieht. Und: Er
wird von "drüben" beobachtet!
Nach vorsichtiger Erkundung und Betrachtung, einigen schlaflosen
Nächten, vielen Überlegungen und Vorbereitungen
erfolgt Theos leibhaftiger Übertritt in diese grüne
Welt, wo sich unheimliche schwebende Männer stillschweigend
mit vor den Augen festgewachsenen Feldstechern, Béla, ein
Lastwagenfahrer und Schutzengel in Personalunion, ein abgehalfterter
Sternekoch, der köstliche belegte Brote zubereiten kann, ein
hilfreiches Wundermesser, ein gefangengehaltenes Mädchen, eine
Agentin namens Leflor und deren Hund Helene befinden, um nur einige
Elemente zu nennen.
Nach der zweiten Befreiungsaktion stellt sich das Mädchen auf
wundersame Weise als Theos jüngere Schwester Anna, der er sich
fortan besonders verbunden fühlt, heraus. Anna,
später bisexuelle Schriftstellerin, wird im weiteren Verlauf
in der grünen Welt mit absonderlichen Vorrichtungen gefoltert;
sei es ein Laufband mit Henkersschlinge, eine Kampfschwimmanlage oder,
in fortgeschrittenem Alter, eine Apparatur, die zum Alkoholtrinken
zwingt, andernfalls Strangulation erfolgt - und jedes Mal dient sie
doch "nur" als Köder ... Mehr wird hier jedoch nicht verraten!
Im Roman zeigen sich rückblickend auffallende
Übereinstimmungen zwischen Theos Krankengeschichte und den
Entwicklungen in der grünen Welt, von relativer
Normalität bis zum Bürgerkrieg, vier Jahrzehnte nach
den einleitenden Ereignissen.
Theo befindet sich inzwischen als Nachtwächter auf einem
Raumschiff Richtung Mars, hat zwei Ehen hinter sich, ist
fünffacher Familienvater und blickt auf seine bisherige
Lebensgeschichte zurück, da zeigt sich das
verhängnisvolle Rollo abermals, und Theo wird wieder in die
grüne Welt hinübergesogen.
Das vom Erwachsenen längst (und voreilig) als reine
Kindheitsfantasie eingestufte seinerzeitige Abenteuer erfährt
eine Fortsetzung, und auch "Lucian", das Wundermesser, leistet erneut
gute Dienste!
In der grünen Welt ist Theos Mutter übrigens eine
gesuchte Meisterdiebin, doch wem sie was gestohlen hat, wird erst am
Ende enthüllt, als Theo sozusagen seine eigentliche
Zugehörigkeit erkennt, nicht länger flieht und sein
Schicksal bzw. seine Rolle im Spiel der Mächte annimmt. Wie in
einer klassischen Heldengeschichte ergeben sich somit erst gegen Ende
aufschlussreiche Einsichten in die großen
Zusammenhänge.
Theos Pendeln zwischen den Welten erklärt sich - wenn man so
will - im Schlusskapitel des Romans: Er ist nämlich im Alter
von zehn Jahren, eingewickelt in das grüne Rollo, aus seinem
Kinderzimmerfenster gestürzt und danach vier Jahrzehnte lang
im Wachkoma gelegen, stets umgeben und betreut von seiner Familie ...
Heinrich Steinfests Stil (übrigens präsentiert sich
das Buch, warum auch immer, in "alter" Rechtschreibung!) ist, das soll
an dieser Stelle keineswegs verschwiegen werden, störrisch bis
gewöhnungsbedürftig und wohl nicht jedermanns Sache:
Zahlreiche abgehackt wirkende Stummelsätze, viele davon mit "wobei"
beginnend, bremsen mitunter den Lesefluss und wirken nicht gerade
elegant. Auf der anderen Seite ist positiv hervorzuheben, dass der
Autor ebenso amüsant wie beiläufig allzu
Zeitgeistiges, beispielsweise Antiraucherhysterie, unnötiges
Englisch, Ernährungswahn, Körperkult usw.
thematisiert und solcherart den Mitmenschen auf charmante Weise einen
Spiegel vorhält.
Überdies gelingt es Heinrich Steinfest, die kindliche
Perspektive im ersten Großkapitel überzeugend
darzustellen, aber auch der erwachsene Theo März ist ein
findiger Erzähler der eigenen Biografie, der nicht mit
amüsanten Details geizt.
Unbeschwertes, geistreiches Fabulieren prägt den gesamten
Roman, der unter Anderem auch Einsichten und Aussagen, die man im
Alltag perfekt einsetzen kann, bietet. Zwei Beispiele:
"Leute, die sich entschuldigen, werden früher krank."
(S. 62)
"Die Beweissucht ist eine Sucht der Erwachsenen (und
natürlich ist es so, dass viele Dinge und Wesen diesen Trieb
insofern sabotieren, als sie sich sofort totstellen, sobald sie unter
ein Mikroskop gelegt werden. Sehr zu Recht! Oder würde man
etwa den Papst in ein Labor einsperren, um seine Unfehlbarkeit zu
beweisen? Auch der Papst würde sich dann totstellen, oder?"
(S. 100)
Bemerkenswert ist zudem die Gestaltung des Texts: Jene Passagen, die in
Theos "Familienwelt" stattfinden, sind in Schwarz gehalten, jene, die
in "Greenland" angesiedelt sind, in Grün!
Auch das Lesebändchen schimmert in dezentem Grün. Es
ist einfach schön, ein derart stimmig gestaltetes Buch in
Händen zu halten: ein kleines Gesamtkunstwerk.
"Das grüne Rollo" zündet mit einer
hinreißenden Geschichte, die den Leser sanft und doch
kraftvoll in traumartige Sphären entführt, ein
Ideenfeuerwerk, das aufgrund der in mehrfacher Hinsicht
außergewöhnlichen Situation des
Icherzählers nachdenklich stimmt.
(kre; 08/2015)
Heinrich
Steinfest: "Das grüne Rollo"
Piper, 2015. 288 Seiten.
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Vier weitere Bücher des Autors:
"Der Chauffeur"
zur Rezension
...
"Das Leben und Sterben der Flugzeuge" zur Rezension ...
"Die Büglerin" zur Rezension ...
"Das himmlische Kind" zur Rezension ...
"Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte" zur Rezension ...
"Der Allesforscher"
Sixten Brauns vollkommen normales Managerleben implodiert, als in
Taiwan ein Wal explodiert, und Sixten von irgendeinem Teil des
Wal-Innenlebens k.o. geschlagen wird. Kaum aus dem Krankenhaus
entlassen, stürzt er mit dem nächstbesten Flugzeug ab
- und überlebt abermals. Aber nicht ohne zwischendurch die
große Liebe erlebt zu haben. Und so kommt er Jahre
später - Sixten hat sich längst vom Manager zum
Bademeister gewandelt - zu einem Kind, das auf gar keinen Fall sein
eigenes sein kann, es dann aber doch plötzlich ist ... Ein
frisch verwaister Junge namens Simon. Ein Junge, der nicht spricht,
außer in seiner eigenen, nur ihm selbst
verständlichen Sprache. Ein Junge, der sich dann als ganz
ungewöhnlich talentiert in ganz ungewöhnlichen
Bereichen erweist: Er kann klettern wie eine Gämse und
zeichnen wie Leonardo
da Vinci. Auch liegt es an Simon, dass sich so manche Gerade
in Sixtens Leben zum Kreis schließt ... (Piper)
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Weitere
Buchtipps:
Markus Gabriel:
"Ich ist nicht Gehirn. Philosophie des Geistes für das 21.
Jahrhundert"
Gibt es die menschliche Freiheit? Ist unsere gesamte Lebensform nur
eine Illusion? Reicht das Vorhandensein eines Gehirns, um ein geistiges
Lebewesen zu sein? Von den Naturwissenschaften ausgehend hat sich in
den letzten Jahren ein Neurozentrismus herausgebildet, der auf der
Annahme basiert, dass Ich gleich Gehirn
ist. Markus Gabriel hingegen
hegt begründete Zweifel, dass wir uns auf diese Weise selbst
erkennen können. Er greift das wissenschaftliche Weltbild an
und lädt ein zur Selbstreflexion anhand zentraler Begriffe wie
Ich, Bewusstsein oder Freiheit mit Hilfe von Kant,
Schopenhauer
und Nagel, aber auch "Dr. Who", "The Walking Dead" und "Fargo". Mit
seinem leidenschaftlichen Plädoyer gegen den Neurozentrismus
stellt Markus Gabriel eine neue Verteidigung des freien Willens vor und
gibt eine zeitgemäße Anleitung zum philosophischen
Nachdenken über uns selbst - mit Verve, Humor und
blitzgescheiten Erkenntnissen. (Ullstein)
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Philipp
Hübl: "Der Untergrund des Denkens. Eine Philosophie des
Unbewussten"
Unser Bewusstsein ist das größte Rätsel der
Wissenschaft: Wir bestehen aus Milliarden von Molekülen, die
weder denken noch fühlen können - und doch machen sie
zusammen unsere Persönlichkeit und unser subjektives Erleben
aus. Das Unbewusste ist ebenso rätselhaft; was dort passiert,
kann niemand so genau sagen. Nicht einmal die Forscher, die es wissen
müssten: Psychologen und Neurowissenschaftler. Wie bestimmen
unbewusste Eindrücke, Wünsche
und Informationen unser
Denken, Fühlen und Handeln? Die gute Nachricht: Nietzsche
und
Freud
hatten unrecht - wir sind die Herren im eigenen Haus, auch wenn
wir manchmal nicht wissen, wer im Keller umherschleicht. Die schlechte
Nachricht: Wir überschätzen unseren Einfluss und
reden uns manchmal fälschlicherweise ein, wir hätten
gute Gründe für unsere Taten. Der Philosoph Philipp
Hübl entlarvt den Mythos von der Macht des Unbewussten - er
zeigt, wie Vernunft und kontrollierte Aufmerksamkeit uns vor Manipulation
schützen. Ein ebenso grundlegendes wie provozierendes Buch.
(Rowohlt)
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Werner
Siefer:
"Der Erzählinstinkt. Warum das Gehirn in Geschichten denkt"
Ich erzähle, also bin ich - warum die besten
Geschichtenerzähler in der Evolution siegen.
Jeder von uns hat ihn, den Erzählinstinkt: Wir alle
organisieren unser Gedächtnis, unsere Ziele und
Wünsche, unser gesamtes Leben auf narrative Weise.
Erzählend verorten wir uns in Zeit und Raum. Doch nicht nur
Individuen, ganze Zivilisationen gründen auf Mythen, die
Zusammenhang und Sinn stiften. Auf die Frage, was uns zu Menschen
macht, gibt es viele Antworten: unser Verstand etwa oder die
Fähigkeit zur Kooperation. Werner Siefer tritt den Beweis an,
dass unsere Hilfsbereitschaft den Erzählinstinkt einst
begründete. Eindrücklich zeigt er, warum eine gute
Erzählung alles vermag: von der Überwindung
persönlicher Krisen bis zur Schaffung des Weltfriedens.
(Hanser)
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Hannah Monyer, Martin Gessmann: "Das geniale
Gedächtnis. Wie das Gehirn aus der Vergangenheit unsere
Zukunft macht"
Unser Gedächtnis hat einen zweifelhaften Ruf. Es
verfälscht Erinnerungen und speichert, was wir uns merken
wollen, nur unvollständig. Je älter wir werden, umso
mehr. Doch die neueste Forschung revolutioniert unser
Verständnis von Gedächtnis. Denn ob
elefantöses Erinnerungsvermögen oder "Hirn wie ein
Sieb" spielt kaum eine Rolle. Unser Gedächtnis ist
nämlich kein Archiv, das einmal Erlebtes statisch ablegt,
sondern ein viel anspruchsvolleres Netzwerk: Seine radikale
Zukunftslogik bestimmt, was wir uns merken, wie wir lernen und wer wir
sind. (Knaus)
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