Josef Formánek: "Die Wahrheit sagen"
Brutaler Roman über die Liebe zum Leben
Wer sich als Rezensent mit Interesse für die Literaturen Mittel- und Osteuropas
Gedanken zur geringen Risikobereitschaft deutscher Verlage macht, ist häufig
enttäuscht. Bekannte Titel renommierter Autoren aus den Nachbarländern verkaufen
sich abseits von Messeschwerpunkten oder spezialisierten und subventionierten
Verlagsschienen auf dem deutschen Buchmarkt oft nur noch als Nischenprodukte.
Wer jedoch Bücher aus Eigen-, Bezahl- und ephemeren Kleinverlagen liest, weiß
bald auch das Wirken guter Verlagstätigkeit - Korrekturen, Lektorat, Grafik - zu
schätzen.
In diesem Zwiespalt begegne ich dem Buch "Die Wahrheit sagen" von Josef Formánek,
dem ersten und derzeit einzigen Titel des "Gekko-World-Verlages" aus dem
südmährischen Trebitsch (Třebíč). Der tschechische Schriftsteller, Journalist
und Globetrotter veröffentlichte das tschechische Original, seinen dritten
Roman, bereits 2008 mit großem Erfolg in einem tschechischen Verlag, allerdings
einem, der sich auf Koch- und Lebensstilbücher spezialisiert hat ...
In einem Leben ganz anderen Stils konnte der Protagonist Bernhard Mares
Gelegenheiten nicht auslassen. 1923 in einer Wiener Straßenbahn geboren, wächst
er als Findelkind in einem mährischen Waisenhaus auf. Sein Erwachsenwerden fällt
in die Zeit der deutschen Besetzung seiner Heimat und des Ausbruchs des Zweiten
Weltkriegs. Die Sehnsucht nach Leben und Liebe, nach Geliebt-, zumindest
Anerkanntwerden führt den jungen Mann in die SS, wo er nicht ganz unbeteiligt
Zeuge von Kriegsendverbrechen in der Umgebung von Krems wird. Aber mit seinen
Tschechischkenntnissen versteht er auch Russisch und wird prompt Dolmetscher der
Roten Armee. Als seine Vergangenheit beim Feind auffliegt, wird er verhaftet, in
seinen nominellen Heimatstaat deportiert, wo er nur knapp dem Galgen entgeht.
Kaum entlassen, verschweigt er, wonach er nicht explizit gefragt wird, und dient
sich rasch zum Parteisekretär der eben an die Macht gelangten Kommunistischen
Partei der Tschechoslowakei hoch. Ein Fluchtversuch nach Österreich bringt ihn
für viele Jahre ins Gefängnis, aus dem ihn erst die zweifelhafte Kameradentreue
eines Zellengenossen, eines deutschen SS-Generals und Kriegsverbrechers, und
diplomatisches Bemühen seitens der BRD befreien. Nach Jahren in Deutschland und
Südamerika kehrt er auf der Suche nach seiner großen Liebe, einer jüdischen
Frau, der er einst als SS-Mann in einem Außenlager von Mauthausen begegnete,
nach Tschechien zurück. Dort, auf einer Müllhalde im nordböhmischen Aussig/Ústí
nad Labem, begegnet ihm der Autor auf seiner eigenen von Alkohol umnebelten
Suche nach dem Sinn in einem Leben.
Diese an sich wahre Lebensgeschichte - der Wanderer zwischen den extremen Regimen
des 20. Jahrhunderts hieß in Wirklichkeit Waldemar Solar (1923-2011)
- bietet Stoff für mindestens drei Romane, besonders in einem Land, das den
Antihelden Schwejk hervorgebracht hat, der schon im Ersten Weltkrieg auf keine
Gelegenheit verzichtete, das zu genießen, was ihm noch vom Leben blieb.
Ob der Roman die Wahrheit, dieses "Kind der Zeit" (Bert Brecht), spricht, bleibt
unbekannt; Bernhard Mares liebt jedenfalls das Sprechen, nähert sich im Erzählen
seines eigenen Lebens rückblickend einem fransigen roten Faden an: Das Leben
findet immer nur im Augenblick statt. Dazwischen aber plätschern Zwischentexte,
die Kommentare des nachgeborenen Autors, der im Leben in Frieden und Freiheit
beides nicht findet und dessen flackerndes Interesse an Bernhards Leben auf die
abgeklärte Misanthropie des Alten prallt.
Der Roman über die brutalen politischen Irrungen stellt sich in eine rege
literarische Tradition, die das vergangene Jahrhundert in die Unbeständigkeiten
eines einzigen Lebens fügt: Ota Filips "Café Slavia" und
Bohumil Hrabals "Ich
habe den englischen König bedient" sind wohl die berühmtesten tschechischen
Versionen dieses Themas, daneben auch "Das besondere Gedächtnis der Rosa Masur"
von Vladimir Vertlib, "Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und
verschwand" von Jonas Jonasson als heitere Version und als Geheimtipp "Das
Walnusshaus"
von Miljenko
Jergović, vielleicht auch der österreichische
Kabarettklassiker "Der Herr Karl".
Das beschriebene Schicksal, der Lebenslauf des Protagonisten, ist zweifellos
faszinierend. Als Leser schwanke ich zwischen der Hoffnung, Fiktion zu lesen,
und der schaurigen Gewissheit der dokumentierten historischen Fakten, auch wenn
manches sachlich unwahrscheinlich scheint. (Konnten sich SS-Männer mit Wissen
der Vorgesetzten mit inhaftierten Jüdinnen treffen? Galt dies nicht als
Rassenschande?)
In Tschechien verkaufte sich die außergewöhnliche Lebensgeschichte 26.000 Mal,
das entspricht im zehnfach größeren deutschsprachigen Buchmarkt den
Verkaufszahlen eines Verkaufsschlagers. Das Buch hätte hier einen renommierten Verlag
mit gutem Vertriebsnetz verdient. Über eine geschmeidigere, konsistentere
Übersetzung und eine etwas weniger befremdliche Typographie hätte sich nicht nur
der Rezensent gefreut.
(Wolfgang Moser; 05/2016)
Josef Formánek: "Die Wahrheit sagen. Brutaler Roman über die Liebe zum
Leben"
(Originaltitel "Mluviti Pravdu")
Aus dem Tschechischen von Martin Roscher.
Gekko World, 2016. 477 Seiten.
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