Hanns-Josef Ortheil: "Der Stift und das Papier"
Roman einer Passion
An Wörtern wachsen: die
Innensicht einer tragischen, aber mit großem Erfolg überwundenen Sprachlosigkeit
Hanns-Josef Ortheil beschreibt autobiografisch den Weg von einer sprachlosen
Kindheit zum wortreichen Autor und Hochschullehrer für kreatives Schreiben.
Unter Gernrednern und Viellesern ist ein solches Schicksal kaum vorstellbar:
Ortheils Eltern hatten gegen Ende des Zweiten Weltkriegs zwei Söhne und in den
ersten Nachkriegsjahren wiederum zwei Söhne jeweils im frühen Kindesalter
verloren. Traumatisch bedingt war die Mutter, eine Bibliothekarin, immer
schweigsamer und schließlich stumm geworden; der fünfte und letzte Sohn wächst
wortlos auf. Er erlebt seine Mutter als lesenden, schreibenden, auch
klavierspielenden, niemals aber sprechenden Menschen. Für die knappe
Kommunikation mit dem Vater oder bei Einkäufen nutzt sie handgeschriebene
Zettel; im Vorschulalter ist der kleine Hanns-Josef davon ebenso ausgeschlossen
wie von der Kommunikation mit Gleichaltrigen.
Das Kind lebt in einer Welt von unverstandenen Worten, die ihm nichts sagen und
die ihn mit zunehmendem Widerwillen gegen die sprechende Welt erfüllen. Die
ersten Schritte zur Heilung des Mutismus, so der Fachausdruck für diese massive
Kommunikationsstörung ohne Defekte der Sprechorgane und des Gehörs, setzt der
naturliebende Vater, ein Landvermesser der Deutschen Bahn, abseits vom
Sprachlärm der Großstadt und dem Leistungsdruck der Schule, in einer Jagdhütte
im heimatlichen Westerwald.
Die Wortlehre beginnt mit dem sorgfältigen Spitzen der Bleistifte und dem fast
rituellen Zuschneiden von Papier. Zuerst sind Zeichnungen von Gemüse, Pflanzen
und Tieren aus dem Duden-Bildwörterbuch abzupausen, dann folgt das
abgeschriebene Wort. Aus Einzelwörtern werden Beobachtungen des Alltags,
schließlich bebilderte und kommentierte Tageschroniken. Jedes Blatt wird
sorgfältig datiert und im Schreibarchiv abgelegt. Hanns-Josef notiert Dialoge in
seinem Umfeld, fasst das Erleben mehrerer Tage in Wochengedichten zusammen und
schreibt schließlich Geschichten. Viele davon sind im Buch abgedruckt und zeigen
einen enormen Wortschatz, sympathischen Witz und eine große sprachliche
Gewandtheit des Siebenjährigen. Ohne je ein Schulbuch in der Hand zu halten,
schafft er als Externist bravourös die Jahresprüfung für die erste
Grundschulklasse. Mit der Institution Schule, anderen Kindern und der Pädagogik
des Unterrichts kann sich "das Kind, das schreibt" dennoch nie wieder
anfreunden.
Der Außenseiter bewährt sich als stets schreibender Beobachter und sprachlich
präziser Gestalter. Aus dem Fußballtraining wird eine Lehrgeschichte über gutes
Training und Mannschaftsport ohne selbstsüchtige Alleingänge. Ein Kellner
bedauert den Knaben, der am Sonntagnachmittag in der Bierstube - aus seiner
Sicht - als Strafe Seite für Seite füllt. Weiterhin stehen die Eltern, vor allem
der Vater, hinter dem Heranwachsenden, schirmen ihn ab vor frühen
Veröffentlichungen und vorschnellem Scheinerfolg. Mehrere Reisen mit dem Vater
sind Schreibanlässe und Horizonterweiterungen, auch Schritte in die tragische
Familiengeschichte. Im verstorbenen Bruder Karl-Josef entdeckt er ein Alter Ego,
das ihn im imaginierten Zwiegespräch, natürlich in verschriftlichter Form, durch
die Untiefen des Heranwachsens führt. Seine Botschaft ist: Weiterschreiben.
Dabei kann er aus einem umfangreichen und wohlgeordneten Archiv von Texten
schöpfen, das er seit den ersten Schreibversuchen zuerst mit väterlicher
Anleitung, dann mit manischer Akribie selbst aufgebaut hat.
Die vom und mit dem Vater entwickelte hochkreative Schule der schreibenden
Befreiung ist Hanns-Josef Ortheils Weg zu einem besonderen Leben, den er bereits
in früheren autobiografischen Büchern (u.a. "Die
Erfindung des Lebens", 2009, "Die
Moselreise", 2010, "Das
Kind, das nicht fragte", 2012, "Die
Berlinreise", 2014) wortreich zwischen Faszination und Beklemmung
oszillierend darstellte.
Die titelgebenden Werkzeuge Stift und Papier sind sprachliche Gymnastikgeräte,
an denen sich der Wortkünstler Ortheil kommunikativ bis zu ungeahnten Höhen, bis
zur Passion, stärken konnte. Im herkömmlichen Wortsinn ist Passion sowohl
maßlose Leidenschaft als auch unabwendbare Leidensgeschichte. Die Frage, ob der
väterliche Alternativunterricht auch bei anderen mutistischen Kindern
therapeutischen Erfolg hätte, stellt sich vielleicht der Leser, niemals der
Autor. In seinem Leben gibt es nur ein Mittel, Schreiben, und ein Ziel,
Weiterschreiben.
(Wolfgang Moser; 01/2016)
Hanns-Josef Ortheil:
"Der Stift und das Papier. Roman einer Passion"
Luchterhand Literaturverlag, 2015. 383 Seiten.
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