Ilja Leonard Pfeijffer: "Das schönste Mädchen von Genua"
Ein
Holländer in Genua
Der Ausgangspunkt für diesen Roman mag wohl die Bekanntschaft
mit dem vermeintlich schönsten Mädchen Genuas gewesen
sein, letztendlich dreht sich aber in diesem Roman alles um Genua.
Oder, genauer gesagt, das zwielichtige Genua. Und um die Innen- und
Außenwelt des Protagonisten, der ein hoffentlich
möglichst fiktives alter ego des Autors ist.
"Das schönste Mädchen von Genua" ist der vierte Roman
des 1968 in Rijswijk geborenen Niederländers, der denselben
Namen wie sein Protagonist trägt und ebenso in Genua lebt.
Seit 2008 immerhin. Seine ersten drei Romane haben den Weg zum
deutschsprachigen Leser bisher nicht gefunden. Dieser Roman hat den in
Holland hoch angesehenen "Libris Literatuur Prijs" gewonnen und scheint
im Original ein ziemlicher Verkaufsschlager zu sein.
Der Hauptteil des Romans besteht aus drei Teilen, die "Das
schönste Mädchen von Genua", "Das Theater anderswo"
und "Das schönste Mädchen von Genua (Reprise)"
bezeichnet sind. Eingefügt dazwischen jeweils ein Intermezzo.
Das erste trägt den Titel "We all live in a yellow submarine",
und das zweite heißt "Fatou yo". Ein Aufbau, der interessant
ist und dem Autor viele Möglichkeiten bietet.
"Das schönste Mädchen von Genua arbeitet in
der Bar mit den Spiegeln. Sie trägt die gleiche adrette
Kleidung wie alle anderen Mädchen, die dort arbeiten. Sie hat
auch einen Freund, der sie ab und zu an der Arbeit besucht. Er hat
gegeltes Haar und trägt ein Muskelshirt mit dem Aufdruck SOHO."
Der Protagonist erzählt von seinen Saufgelagen in der Bar und
allen möglichen Abenteuern, die ihm widerfahren. Er denkt
dauernd an das Mädchen, schweift aber immer wieder von seinen
Gedanken ab und bleibt nichtsdestotrotz stetig am Erzählen.
Gleich im ersten Teil findet er unter Anderem ein abgetrenntes Bein,
das er einmal entsorgt, dann nach Hause holt, wieder entsorgt, nur um
dann doch kurzen, erregten Sex mit dem Bein zu haben, das, wie sich
später herausstellen wird, Ornella gehört, die sich
wiederum als Mann entpuppt. Pfeijffer macht es seinen Lesern nicht
leicht, was prinzipiell kein Hindernis wäre, ergäben
die absurden Gedankengänge des Protagonisten und Autors nur
irgendeinen zumindest in Ansätzen nachvollziehbaren Sinn.
Allein die Überlegungen, was denn nun mit dem Bein zu
geschehen habe, nehmen einige Kapitel und Seiten ein. Man folgt den
immer wieder witzigen Gedanken gespannt, weil die Erwartungshaltung,
dass hier ein tieferer Sinn dahinterstecken muss, nicht so gern ad acta
gelegt werden will. Am Ende ist man schon aufgrunddessen erleichtert,
dass der Protagonist die Person und den Körper kennenlernt,
der auf unsanfte Weise vom geschändeten Bein getrennt worden
ist.
"Ich roch den säuerlichen Brodem ihrer
Öffnungen. Sie stank nach amputiertem Frauenbein in einer
Mülltüte, streckte mir beide feuerrote Zungen heraus
und zischte, sie sei meine Braut. Ihr Kopf rotierte, 'Gibt es
eigentlich etwas, was du nicht weißt?' fragte sie. 'Fick
mich. Oder bist du Vegetarier?'. Sie spreizte die Beine und
schüttelte sich einen Schuh vom Fuß. Der war voller
Erbrochenem, das die Marmortreppen hinunterströmte."
Leider verirrt sich Pfeijffer doch zu sehr in übertrieben
ordinären Beschreibungen, bei denen Henry Miller
wahrscheinlich sogar erröten oder vor Neid erblassen
würde. Was, wenn es im Kontext des Romans wirklich Sinn
hätte, auch wahrscheinlich nicht negativ auffiele. So
verbleibt der bittere Nachgeschmack, dass hier jemand mit aller Kraft
und Vehemenz versucht, mit einem bewusst gesetzten Stilmittel fehlende
Mittel zu übermalen. Natürlich bleiben da dann
gewisse Passagen im Kopf hängen, vor allem, weil Pfeijffer
wirklich nicht zimperlich zur Sache geht. Diese Passagen tragen nur
leider nicht zur Qualität des Romans bei.
"'Beine breit', befahl ich, um Zeit zu gewinnen.
Stöhnend spreizte sie sie. Doch dort sah es so eklig aus, dass
mein Schwanz vor lauter Schreck einschrumpelte. Um Haltung zu wahren,
leckte ich sie stattdessen, doch das war ein Fehler. Sie schmeckte
nach
saurer Pisse
und verdorbenem Fisch. Fast kam mir das exquisite Diner
wieder hoch."
Die beiden Intermezzi sind in sich geschlossene Geschichten, quasi
Erzählungen des Autors über Freunde und Bekannte, die
er auf der dunklen Seite Genuas kennengelernt hat. Da gibt es den
Briten Don, der zuerst seinen dreiundsiebzigsten Geburtstag feiert und
am Ende der knapp fünfzig Seiten tot ist. Ein
schräges Leben ebenso, das Don hier in Genua hat ausklingen
lassen. Von "Queen", MI6 bis hin zu Drogen
und krimineller
Tätigkeit, da ist alles vorhanden. Vielleicht sogar zu viel.
Wirklich überzeugend ist die Geschichte des senegalesischen
Flüchtlings, der erzählt, wie und warum er sein Land
verlassen musste, welche Hoffnungen in ihn gesetzt wurden, und welche
davon längst zerstört und begraben waren. Eine
Erzählung, die das unerträgliche Leid der Menschen in
Erinnerung ruft, die ihr Leben für Sicherheit und ein
menschenwürdiges Dasein riskieren, die jedoch an den fehlenden
Schnittstellen scheitern.
"Ich sprach mit so vielen Landsleuten wie möglich und
hörte nur Horrorgeschichten. Einer von ihnen hatte einem
Araber fünftausend Dollar gegeben, der ihn mit dem Auto nach
Tamanrasset bringen wollte, aber der Typ hielt vor dem
nächstbesten Polizeirevier, machte sich mit dem Geld aus dem
Staub, und der Mann landete in einer Zelle. Der Fahrer eines
Lastwagens
hatte seine fünfundachtzig Passagiere in der Wüste
einfach alleingelassen. Sie waren alle verdurstet."
Dazwischen verliert sich Pfeijffer immer wieder in Betrachtungen und
Meinungsäußerungen. Das ist oft witzig und
unterhaltend, öfter allerdings stört es den Fluss der
Erzählung und die Form des Romans, der sich mit der
letztendlich singulären Beinromanze sowieso schon zu Beginn
ein nur schwer ausgleichbares Eigentor geschossen hat. So treffsicher
die Betrachtungen über die zweitwichtigste, oder gar
wichtigste Religion in Italien, die "Serie A", auch sind, ihre
Sinnhaftigkeit in einem fiktiven Werk ist ein wenig
fragwürdig. Ebenso fragwürdig wie Wertungen und
Feststellungen über den Italiener
per
se, oder über
seine Kochkünste, über seine Beziehung zur Mutter und
andere Kleinigkeiten, die, wie erwähnt, immer wieder (aber
nicht immer) geistreich und witzig sind, im Kontext allerdings
eigentlich nur stören. Zu viel Beiwerk, zu viel Verzierung und
zu wenig Substanz, um aus diesem abschnittsweise Funken
sprühenden Text einen wirklich guten Roman zu machen.
Auch wenn dieser Roman großartig von Rainer Kersten
übersetzt wurde, "Das schönste Mädchen von
Genua" ist leider keine wirklich überzeugende Lektüre.
(Roland Freisitzer; 06/2016)
Ilja
Leonard
Pfeijffer: "Das schönste Mädchen von Genua"
(Originaltitel "La Superba")
Übersetzt
von Rainer Kersten.
Aufbau Verlag, 2016. 441 Seiten.
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