Margaret Atwood: "Das Herz kommt zuletzt"
Was
bist Du bereit, für ein schönes, sorgenfreies Leben zu bezahlen?
In Margaret Atwoods breit gefächertem Schaffen nahm die Dystopie bisher immer
schon eine wichtige Rolle ein. Zwischen ihrem wahrscheinlich bekanntesten Werk "Der
Report der Magd" und der erst kürzlich vollendeten Trilogie ("Oryx
und Crake", "Das Jahr der Flut" und "Die
Geschichte von Zeb") finden sich immer wieder Werke, in denen Atwood eine
Was-wäre-wenn-Situation nutzt, um gesellschaftlichen oder moralischen
Missständen auf den Zahn zu fühlen.
"Das Herz kommt zuletzt" ist ihr bisher vorletzter Roman, der nur wenige Wochen
vor ihrem neuesten Roman "Hexensaat" (eine Neuerzählung von Shakespeares
"Sturm"-Stoff), der ihren Beitrag zur "Shakespeare neu erzählt"-Serie des
Hogarth Verlags darstellt, erschienen ist. So unterschiedlich die beiden Romane
auch erzählt sind, sie zeugen beide erneut von der unvorstellbar regen Fantasie
und schöpferischen Kraft der mittlerweile 77-jährigen kanadischen Autorin.
Angesiedelt in einer nahen Zukunft in Nordamerika, lebt das Ehepaar Stan und
Charmaine in einem alten Honda aus dritter Hand. Sie haben, wie fast alle in
ihrer Region, alles verloren. Bis auf das Auto, das nun als Zuhause dienen muss.
Banden streifen durch die Gegend, weshalb Stan auch auf dem Vordersitz schlafen
muss. Nur so ist gewährleistet, dass er im Notfall jederzeit rechtzeitig
losfahren kann. Da kann es schon einmal passieren, dass die beiden in einer
Nacht drei bis vier Mal den Schlafparkplatz wechseln müssen. Sie leben von dem
geringfügigen Gehalt, das Charmaine in einer heruntergekommenen Kneipe verdient.
Stan, früher IT-Techniker, findet einfach keine neue Arbeit, entweder weil es
sie einfach nicht gibt, oder weil ihn die rar gesäten Arbeitgeber als
"überqualifiziert" abstempeln und wegschicken. So wendet er sich in einem
verzweifelten Hilferuf an seinen Bruder Conor, das ehemalige Sorgenkind der
Familie, früher immer mit einem Fuß oder gar beiden Füßen im Gefängnis. Conor
scheint nun über der Lage zu stehen und bietet seinem Bruder großzügig
finanzielle Hilfe an, die Stan auch annimmt. Das Angebot, ihm auch Arbeit zu
verschaffen, lehnt er aus moralischen Gründen ab.
Charmaine sieht eine Fernsehwerbung, in der ein geschniegelter Typ Rettung
verspricht. Er bietet ein schönes, geregeltes, sorgenfreies Leben an. Eine Art
Sozialexperiment, nicht unumstritten, aber eine Lösung. Und so klammern sich
Stan und Charmaine an diesen dubiosen Strohhalm und verpflichten sich trotz
eindringlicher Warnung von Conor lebenslänglich als Bürger der Doppelstadt
Consilience und Positron.
"Sei der Mensch, der du immer sein wolltest, heißt es in Positron. Ist das
der Mensch, der sie immer sein wollte? Ein Mensch, der so lax, so
kapitulationswillig, so schnell geschwächt ist und dem es an vielem mangelt, an
was mangelt es denn? Na ja, an was es ihr mangelt, sie würde Stan niemals wehtun
wollen."
Der Alltag der beiden ist nun zweigeteilt. Einen Monat wohnen sie in einem
sauberen, schönen Haus, den nächsten Monat im Gefängnis. Während der Zeit im
Gefängnis lebt ein anderes Paar in dem Haus. Möbel und Ausstattung bleiben
gleich, nur hat jeder seinen eigenen Spind, wo die wirklichen Privatbesitze
verstaut werden. Niemand darf in Kontakt mit seinem Tauschpaar kommen. Jeder
Bürger erhält eine Arbeit, entweder in jenem Bereich, den er sich bereits im
früheren Leben angeeignet hat, oder er bekommt eine Ausbildung, mit der er etwas
Neues machen kann. So wird Stan zur Hühnerzucht eingeteilt, und Charmaine erhält
eine besonders wichtige Aufgabe, die Margaret Atwood nur langsam zum Leser
durchsickern lässt. Selbst Stan erfährt erst, als es bereits fast zu spät ist,
was sie genau macht. Jetzt, wo die beiden in Ruhe und angenehmer Umgebung leben,
selbst die Gefängnisaufenthalte sind angenehm, ist ihr Eheleben auf Sparflamme
heruntergefahren. Zärtlichkeiten passieren nur mehr selten, mechanisch und fast
geistesabwesend.
Natürlich werden alle Bürgerinnen und Bürger strengstens überwacht. Der Kontakt
zur Außenwelt ist verboten und unmöglich.
Obschon das Projekt vermeintlich wohltätig ist, hat jeder einen Arbeitsplatz. Die
Tätigkeiten sind im Sinn der Gemeinde, und die wirklichen Gefangenen werden
durch ihren Kontakt zu den Gastinsassen vermeintlich resozialisiert. Eine
perfekte kleine Welt? Natürlich nicht. Wie schon das Projekt Kommunismus nicht
funktioniert hat, ist auch hier die Gier des Menschen ein Faktor, der die nur
scheinbar gute Idee untergräbt. Die Gerüchteküche sondert rasch immer stärkere
Düfte ab: von Macht- und Profitgier, bis hin zu Menschenversuchen und
Organhandel.
Als Stan eines Tages einen Zettel mit einer sexuell eindeutigen Nachricht von
Jasmine an Max unter seinem Kühlschrank findet, geht er davon aus, dass es sich
um das Austauschpaar handeln muss. Diese Nachricht löst in ihm ein Begehren nach
Zuwendung und Erotik aus. Er verliebt sich in die ihm natürlich unbekannte
Jasmine und nimmt sich vor, sie kennenzulernen. Damit löst er eine Kette von
Ereignissen aus, die den Roman an dieser Stelle erst so richtig in Fahrt kommen
lassen.
Was Margaret Atwood hier für Feuer entfacht, ist einfach genial. Ihr Text sprüht
nur so von jugendlichem Elan und Bissigkeit. Selbst ihre Sexszenen sind ironisch
funkelnd und gleichzeitig abgeklärt, ohne je bemüht erotisch zu sein. Ihre
Beobachtungen sind messerscharf und führen den Leser immer wieder bewusst auf
falsche Fährten, weshalb der Rezensent zur weiteren Handlung, die den Großteil
des Romans ausmacht, nichts mehr sagen wird. Zu schade wäre es, wüsste der
potenzielle Leser bereits, wohin das alles führt.
Man könnte fast vermuten, dass Margaret Atwood beim Schreiben dieses irrwitzigen
und abgedrehten Romans viel (vielleicht sogar bereits ordentlich hexenhaften)
Spaß gehabt haben muss, selbst oder gerade wenn die Themen, die sie hier
einfließen lässt, alles Andere als witzig sind. Genau da, wo alles aus dem Ruder
zu laufen scheint, trifft sie den Nagel exakt auf den Kopf. Wer hier die
Parallelen zu unserer Zeit sucht, wird sie rasch finden. In jene Momenten, in
denen man laut lachen möchte, friert einem das Lachen sofort wieder ein, wenn
man erkennt, dass das, was hier vor sich geht, absolut realistisch ist oder sein
könnte.
Die Figuren sind lebendig und glaubhaft, gerade weil niemand perfekt ist. Kein
Mensch ist perfekt, und jeder hat irgendwo seinen Preis, den er oder sie bereit
ist, für Sicherheit, Liebe oder einfach ein ruhiges Leben zu zahlen.
Atwoods Dialoge sind ebenso frisch und immer als Motor der Handlung gedacht.
Herrlich zum Beispiel die Szene mit den Männern, welche die Sexpuppen herstellen
dann doch nicht ganz von der Sache überzeugt sind.
"'Ich glaube nicht, dass ein lebender atmender Mensch jemals ersetzt werden
kann', sagt Derek.
'Das haben sie bei den E-Books auch gesagt', sagt Kevin."
Am Ende löst sich alles in einer Art Hexensabbat auf, der mit unzähligen
Elvis-Doppelgängern, Marylin Monroe-Doubles und verkleideten Sexpuppen, einem
Liebestrank und boshafter Weisheit inszeniert ist. Vielleicht etwas plakativ,
aber irrsinnig unterhaltend und witzig. Dass die Lösung aller Probleme in der
Hand der Frauen liegt, ist bei Margaret Atwood gar nicht überraschend.
Vielleicht sollten Atwoods Figurinen ja in Wirklichkeit die Weltmacht an sich
reißen, damit uns Szenarien wie die in diesem Roman erspart bleiben können?
Großartig übersetzt von Monika Baark, ist "Das Herz kommt zuletzt" ein absolutes
Glanzlicht von einem Roman, sicherlich einer der besten Romane von Margaret
Atwood und definitiv ein strahlender Stern unter den Neuerscheinungen der
letzten Monate.
(Roland Freisitzer; 04/2017)
Margaret Atwood: "Das Herz kommt zuletzt"
(Originaltitel "The Heart Goes Last")
Übersetzt von Monika Baark.
Berlin Verlag, 2017. 390 Seiten.
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