Franz Hohler: "Das Päckchen"
Eine
spannende bibliophile Geschichte
Als der Bibliothekar und Mobiltelefonverweigerer Ernst den
Hörer des öffentlichen Telefonapparats am Berner
Hauptbahnhof abnimmt, der neben ihm läutet, setzt er eine
Entwicklung in Gang, die dem Leser dieses Romans unterhaltsame und
eindringliche Lektüre beschert.
"Er schaute sich um, um zu sehen, ob da jemand war, der sich
vielleicht zurückrufen ließ, aber erst am
übernächsten Apparat sprach ein
fremdländischer Mann eindringlich und leise in die Muschel,
ohne auch nur den Kopf zu drehen. Da machte er den ersten Schritt, hob
den Hörer und sagte: 'Hallo?'"
Die ältere Dame, die am Telefon ist, sucht Ernst. Allerdings
einen anderen. Irgendwie verläuft das Gespräch so,
dass Ernst dem Ruf der Frau folgt und zu ihr in die Wohnung
fährt. Die alte, halbblinde Frau hält ihn
für ihren Neffen Ernst. Sie bitte ihn eindringlich darum, ein
kleines Päckchen aufzubewahren, damit es nicht in falsche
Hände gelangt. Als Ernst heimkommt und das Päckchen
öffnet, entdeckt er darin ein handgeschriebenes Exemplar des
"Abrogans", eines altdeutsch-lateinischen Wörterbuchs, das als
ältestes deutschsprachiges Buch gilt. Er vermutet, dass es
sich hierbei um das eine scheinbar verschollene Original handelt.
Ruhig und bedächtig erzählt Franz Hohler nun, wie
sich sein bibliophiler Protagonist der magischen Anziehungskraft dieses
Buches nicht mehr entziehen kann und zu ermitteln beginnt. Er besucht
die alte Dame erneut, weil er herausfinden möchte, wie das
Buch in ihre Hände gekommen ist. Er erfährt vom
Verschwinden ihres Ehemanns, der vor nun gut dreißig Jahren
am Jungfraujoch im Gletscher verschollen ist.
"Ja, man sei mit Helikoptern über das ganze
Jungfraugebiet geflogen, aber am Sonntag habe es eben einen
Wetterwechsel mit Schneefall gegeben, alle Skispuren seien verwischt
gewesen, und man habe ja auch gar nicht sicher gewusst, ob man
überhaupt in der richtigen Gegend suche. Man habe bei allen
Berghütten im Berner Oberland nachgefragt, ob er sich irgendwo
eingetragen habe, aber sein Name sei nirgendwo gefunden worden."
Als er ein weiteres Mal bei der alten Dame auftaucht, ist sie bereits
tot. Vermeintlich die Treppe hinuntergestürzt. Nun trifft er
auf den wirklichen Neffen und die Polizei. Er gibt einen falschen Namen
an und flieht.
Eine Lüge bedingt die nächste, und so kommt er bald
auch privat ins Strudeln. Es wird immer komplizierter, sich Zeit
für die Recherche freizuschaufeln. Als er erfährt,
dass ein seit 1980 vermisster Bergsteiger vom Eis freigegeben worden
ist, fasst er den Plan, die Spur an Ort und Stelle zu verfolgen.
In dazwischengeschobenen Kapiteln erzählt Franz Hohler die
Geschichte des jungen Haimo, die im Jahr 772 beginnt. Haimo wird durch
Zufall Schreiber am Kloster Weltenburg bei Regensburg und darf statt
einer Strafe für sündiges Verhalten an der Abschrift
des "Abrogans" arbeiten, der von nun an sein Leben bestimmen wird.
Gleichzeitig liebt er verbotenerweise Maria, und nachdem sie fast
ertappt werden, wird er auf die Reise zu verschiedenen
Klöstern geschickt, wo er andere Bücher im Gegenzug
für eine Abschrift des "Abrogans" anbieten soll. Eine Reise,
die ihn gut zehn Jahre beschäftigen sollte. Maria
täuscht ihren Selbstmord vor und flieht mit Haimo als
Stallbursche verkleidet. Ihre erste Station: das Kloster Wessobrunn.
Maria wird dort schwanger, und nachdem ihre Schwangerschaft auffliegt,
müssen sie weiterziehen.
"Und so schrieb Haimo das Kapitel mit den Versuchungen zu
Ende, nach zehn Tagen wurde das Kindlein auf den Namen Tassilo getauft,
und als sich der Stallbursche Almar von den ungewöhnlichen
Anstrengungen erholt hatte, setzte er sich als Maria in Frauenkleidern,
die ihm die Wehmutter geschenkt hatte, auf den Esel und zog mit Haimo
bei einsetzenden Herbststürmen in Richtung des Bodensees
davon, und zwei Dutzend Benediktinermönche standen vor den
Pforten des Klosters und winkten ihnen nach."
Franz Hohler entwickelt die Geschichte von Maria und Haimo sehr linear.
Mit ordentlichen Anleihen an eine der Zeit angepasste Sprache, ohne
sich je untreu zu werden. Dabei gelingt ihm eine sehr schöne,
überzeugende Erzählung über das 8.
Jahrhundert und die Herkunft des "Abrogans". Auch Humor kommt in diesem
Roman nicht zu kurz, allerdings eher trocken und umso geistreicher.
Auch in der heutigen Schweiz treibt er die Geschichte von Ernst und
demselben, nun ungefähr 1300 Jahre alten Buch zügig
weiter und auf ein spannendes Ende zu, das alle
Handlungsstränge in einer Gletscherspalte zusammenkommen
lässt.
Franz Hohlers Prosa ist auf eine im positiven Sinn des Wortes fast
traditionelle Art und Weise wohltuend. Kein Schnickschnack, keine
überflüssigen Ausschmückungen; fein
komponierte Sätze und lakonische, überzeugende
Dialoge. Er nimmt dort Fahrt auf, wo es notwendig ist und das Tempo
dort heraus, wo es wichtig ist. Alles in allem ist "Das
Päckchen" ein wirklich spannender, herrlich geschriebener
Roman, der großartige Unterhaltung garantiert.
(Roland Freisitzer; 10/2017)
Franz
Hohler: "Das Päckchen"
Luchterhand, 2017. 222 Seiten.
Buch
bei amazon.de bestellen
Digitalbuch bei amazon.de
bestellen