Erich Hackl: "Am Seil"
Eine Heldengeschichte
"Es war für Dich
selbstverständlich und gar nicht erwähnenswert, daß Du in einer Zeit der
Unmenschlichkeit Deinen Anspruch als Mensch gelebt hast. Und dafür möchte ich
Dir gerade jetzt, wo sich die Geschichte zu wiederholen droht, ganz besonders
danken." (Leo Graf, Nachruf auf Reinhold Duschka im Sektionsblatt
des Edelweiß)
Leo Graf war viele Jahre engster Mitarbeiter von Reinhold
Duschka. Er war gelernter Spengler, und Duschka hat ihn gefragt, ob er in seiner
Werkstatt zu arbeiten anfangen will. Es ging darum, aus Messing und Kupferblech
kunstgewerbliche Gegenstände zu schaffen. Leo Graf war aber nicht nur Duschkas
Mitarbeiter, sondern auch ein Bergkamerad. Wobei die beiden nur die wenigsten
Touren gemeinsam bestritten. Auch wenn sie eng zusammenarbeiteten, wurde nur
wenig miteinander gesprochen. Reinhold Duschka soll ein wortkarger Mensch
gewesen sein. Einer, der auch nicht davon sprach, das Bedürfnis zu haben, die
Welt zu verändern.
Leo Graf las eines Tages die Zeitung und entnahm
dieser, dass sein ehemaliger Meister und Bergkamerad Reinhold Duschka die Ehrung
eines Gerechten unter den Völkern zuteil geworden war. Duschka habe vier Jahre
lang eine Jüdin und deren Tochter in seiner Werkstatt versteckt.
Erich
Hackl hat die Geschichte von Reinhold Duschka erzählt. Mit knappen Worten. Er
hat den Versuch unternommen, die Erinnerung an Reinhold Duschka wach zu halten.
Lucie Heilman, Tochter der Chemikerin Regina Steinig, erzählte von den Jahren im
Versteck, und auch davon, wie sie Reinhold Duschka erlebte. Dieser aus Berlin
stammende Mann riskierte sein eigenes Leben, um eine Frau und deren Tochter vor
Verfolgung und Deportation zu schützen. Er versorgte sie mit Lebensmitteln und
gab ihnen die Möglichkeit, in seiner Werkstatt mitzuarbeiten. Mit dem dadurch
zusätzlich erwirtschafteten Geld konnte er deren Versorgung über so viele Jahre
gewährleisten.
Reinhold Duschka hat sich nie als Held gesehen. Er wollte
auch nicht von Yad Vashem dafür geehrt werden, dass er zwei Menschen das Leben
gerettet hatte. Angeblich auch deswegen, weil er um Aufträge fürchtete, war doch
nach dem Zweiten Weltkrieg der Antisemitismus in Wien nach wie vor stark
vertreten. Erst im Alter von 90 Jahren gab er Lucie Heilmans Drängen nach, und
nicht viel später wurde ihm die Ehrung eines Gerechten unter den Völkern
erwiesen.
Es ist eher ungewöhnlich, dass die Geschichte eines Retters
aufgeschrieben und als Buch veröffentlicht wird. Seit 2013 gibt es eine
Ehrentafel für Reinhold Duschka in der Mollardgasse 85a. Dies ist jene Adresse,
wo sich seinerzeit seine Werkstätte befand, die Lucia Heilman und ihrer Mutter
Regina Steinig als Versteck diente. Welche Rolle mag nun dieses Buch von Erich
Hackl einnehmen? Eine, die Reinhold Duschka eine Geschichte gibt. Und es ist
hierbei zweitrangig, inwiefern diese Geschichte der "Wahrheit" entspricht.
Welche Wahrheit kann überhaupt über einen Menschen gesprochen werden? Reinhold
Duschka lebt in den Erinnerungen seiner Tochter Hellgard Janous. Und in jenen
seines Enkels Gerald. Und in jenen einiger anderer Menschen. Diese Erinnerungen
sind essenzieller Teil von Erich Hackls Buch. Es werden keine Legenden erzählt,
keine Wunderdinge. Wie jeder Mensch hatte auch Reinhold Duschka charakterliche
Schwächen. Angesichts dessen, dass er zwei Menschen das Leben gerettet hat, als
er damit rechnen konnte, für diese Hilfe zum Tod verurteilt zu werden, wenn sie
ans Tageslicht kommt, verwischen menschliche Schwächen im Lebenslauf.
Menschen wie Reinhold Duschka gab es in der Nazi-Zeit nicht zuhauf. Er war eine
von nur wenigen Ausnahmen. Er erfüllte Lucie sogar einmal den Wunsch eines
Spaziergangs, unvergessliche Stunden, die sie bis heute in ihrem Herzen bewahrt.
Jegliches Verlassen des Verstecks bedeutete Lebensgefahr. Traumatisch für Lucie
und ihre Mutter war es, während mehrerer Bombenangriffe das Versteck nicht
verlassen zu dürfen, weil sie bei einer Kontrolle im Bombenschutzkeller hätten
auffliegen können. Ein einziges Mal wählten sie die Flucht in einen
Bombenschutzkeller, weil sie der Auffassung waren, dass zu diesem Zeitpunkt nur
wenige Menschen die Flucht dorthin antreten würden. Tatsächlich waren es nur in
etwa ein halbes Dutzend Menschen. Genau dieser Bombenangriff hätte mit
Sicherheit den Tod gebracht. Reinhold Duschka hat sie danach schnell in ein
anderes vorübergehendes Versteck gebracht.
Der passionierte Bergsteiger
Reinhold Duschka war in erster Linie eines: ein Mensch! Ein Mensch, der sofort
half, als er die Not einer Frau und deren Tochter sah, die ohne Hilfe umkommen
würden. Er hat geholfen, weil er es tun musste. Erich Hackls Erinnerungsbuch
zieht sich bis in die Gegenwart. Denn was heute als Zivilcourage gilt, ist
vielen Zeitgenossen ein Dorn im Auge. Menschen in Not zu helfen, keine Vorurteile
gegenüber Menschen zu haben, die vor Krieg und Verfolgung die Flucht ergriffen
haben, überhaupt Menschen wie Menschen zu behandeln und sie nicht als
"unterlegen" anzusehen. Es braucht Menschen wie Reinhold Duschka, es braucht
Menschen, die nicht nur an sich und die Erfüllung eigener Bedürfnisse und
Karrierevorstellungen denken. Es braucht Menschen mit Empathie und auch solche,
die eine Mission zu erfüllen trachten, wenn sie es für möglich halten: die Welt
ein kleines bisschen im positiven Sinn zu verändern. Reinhold Duschka hat seine
besondere Mission mit Bravour gemeistert.
(Jürgen Heimlich; 07/2018)
Erich Hackl: "Am Seil. Eine Heldengeschichte"
Diogenes, 2018. 128 Seiten.
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